Zum Buch:
Geboren werden, leben und sterben in der völlig entgrenzten Gewaltgesellschaft des von Bomben und Bürgerkrieg geschüttelten Nordirland – Anna Burns’ Roman folgt der Geschichte des Mädchens Amelia, die 1969 zu Beginn der „troubles“ gerade mal 8 Jahre alt ist und bis Mitte dreißig damit beschäftigt sein wird, einen Ausweg aus der anhaltenden Retraumatisierung zu erkämpfen, die ihr Leben prägt.
Das Belfast der 70er ist ein einziger riesiger rechtsfreier Raum. Abwechselnd werden die Straßen von den verschiedenen Splittergruppen der IRA, von aus Langeweile mordenden Jugendbanden und von der britischen Armee terrorisiert. Die allgegenwärtige Gewalt zwischen Katholiken und Protestanten unter Apartheidsbedingungen und der Wahnsinn einer Rachekultur, die „zwei Leben für eines“ fordert, bestimmen die Welt, in dem die kleine Amelia aufwächst. Die eigene Familie, in der ebenfalls nur das Recht des Stärkeren etwas gilt, ist dabei kein Rückhalt, sondern eine beständige Quelle größter Gefahr für Leib und Leben.
Burns, selbst 1962 in Belfast geboren, zeichnet also bei weitem kein romantisches Bild vom widerständigen Éire, von Frauen in Lederjacken, die mit Langwaffen kämpferisch Straßenecken bewachen. In dieser 2001 zum ersten Mal erschienenen Geschichte erzählt sie von zerstörten Kindheiten, bei dem diejenigen noch glücklich wegkommen, die „nur“ ihr Leben– und nicht Stück für Stück ihre Gliedmaßen – verlieren, falls sie nicht freiwillig bei den Strafkommandos der lokalen Milizen (oder auch nur der nächsten verfeindeten Mädchengang) auftauchen.
Amelia wächst vor dem Hintergrund einer geradezu ins alptraumhafte übersteigerten toxischen Männlichkeit, die sich durch einen absoluten Vernichtungswillen gegenüber allem Weiblichen auszeichnet, zu einer jungen Frau heran, gezeichnet von Essstörungen und Psychosen. Die lähmende Xenophobie, die sich gegen schlichtweg alles richtet, was nicht in den eigenen, völlig depressiv verkürzten Alltagshorizont hineinpasst, der allgegenwärtige Alkoholismus und nicht zuletzt die nackte Armut lassen nicht einmal einen Schimmer von Normalität zu.
Wer die nicht im mindesten gedämpfte Grausamkeit erträgt und sich keinen Bildungsroman mit vielen historischen Fakten und Hintergründen wünscht (die gibt es nämlich so gut wie gar nicht), sondern sich auf eine Geschichte des vielschichtigen Konflikts, geschildert in der ersten Person, einlassen kann, wird von Amelias Leben unweigerlich mitgerissen werden.
Florian Geissler, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt