Zum Buch:
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main
Von Heinrich Böll Mitglied der Gruppe 47, Nobelpreisträger, PEN-Präsident, Fürsprecher von Ulrike Meinhof, Kämpfer gegen den BILD-Journalismus, Gastgeber für Solschenizyn und Sacharow, prominenter Vertreter der Friedensbewegung ist heute nicht mehr viel die Rede. Zu Unrecht, wie Christian Linders so spannende wie schwergewichtige Biographie zeigt. Die Lust und Neugier, mit der ich das dickleibige, schön gemachte Buch aufschlug, wich allerdings erst einmal heftiger Irritation angesichts des der Biographie vorangestellten Ernst-Jünger-Zitats und des reichlichen Rückgriffs auf Carl Schmitt in der Einleitung. Das Unbehagen blieb im gesamten ersten Teil erhalten zu gehoben die Sprache, zu raunend die Intention. Und wenn der Autor dann auf der Suche nach dem geheimen Zimmer, also dem Urgrund des Böllschen Lebens und Werks, auf über siebzig Seiten in schauerlicher Ausführlichkeit das gewaltige Konvolut der Böllschen Kriegsbriefe zitiert (der Soldat Böll verbrachte fast die gesamten Kriegsjahre in diversen Kasernen und schrieb täglich: an seine Frau, seine Mutter, Verwandte und Freunde stilistische und gedankliche Perlen darf man da kaum erwarten), wurde der Impuls, das Buch in die Ecke zu werfen, fast übermächtig. Aber dann, mit Beginn des zweiten Teils, wird es plötzlich spannend. Ausgehend von Bölls berühmt-berüchtigten Spiegel-Artikel Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit? nimmt Linder den Leser mit auf eine spannende Reise durch die alte Bundesrepublik, die den älteren Lesern noch einmal vor Augen führt, was mittlerweile alles in Vergessenheit geraten ist, und den jüngeren einen höchst anschaulichen Geschichtsunterricht bietet. Linder stellt die Person Bölls mit all ihren Widersprüchen in ihre ebenso widersprüchliche Zeit, stellt sie in einen politischen und intellektuellen Kontext, der wenn er etwa Bölls Schreiben auf Marcuse zurückführt ganz neue Einsichten ermöglicht. Hier haben wir es nicht mehr mit dem Dichter der kleinen Leute zu tun, sondern mit einem Autor, der sehr bewusst, sehr nachdenklich und sehr differenziert seine Herkunft analysiert und dann entschieden und standfest verteidigt, was er daran als wertvoll erkannt hat. Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils ist ein spannendes und sehr erhellendes Buch, trotz der streckenweise sperrigen Sprache. Es hilft, wenn man gleich beim zweiten Teil anfängt; schließlich geht der Autor, ganz im Sinne Benjamins und Roland Barthes, davon aus, dass man ein Leben von jedem Punkt aus erzählen können muss. Und suchen Sie im Bücherregal schon mal Ende einer Dienstfahrt oder Gruppenbild mit Dame oder andere Bölltexte heraus Sie werden sie dringend wieder einmal lesen wollen. Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main