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Mutter werden. Mutter sein.

Autor
Rieger, Barbara (Hg)

Mutter werden. Mutter sein.

Untertitel
Autorinnen über die ärgste Sache der Welt
Beschreibung

Wie ist das, Mutter und Autorin zu sein? Warum schließt der deutschsprachige Literaturbetrieb Mütter heute immer noch aus? Unter dem Motto „Mütter aller Länder, vereinigt euch, singt!“ will die von Barbara Rieger im vergangenen Jahr herausgegebene Anthologie das Schweigen brechen und über das Muttersein schreiben. Die Beiträge stellen politische Forderungen, reflektieren über Mutterschaft aus ganz verschiedenen Perspektiven und experimentieren zugleich mit neuen Formen des literarischen Ausdrucks. Mal energisch, mal spielerisch, klug und fantasiereich loten sie im Gewirr der Zuschreibungen und Erzählungen um das Muttersein Handlungsmöglichkeiten aus.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Leykam Verlag, 2021
Seiten
216
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-7011-8197-1
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Geboren 1982 in Graz. Studium in Wien. Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur. Lebt und arbeitet als Autorin und Schreibpädagogin (BÖS) in Wien und im Almtal (Oberösterreich). Betreibt seit 2013 gemeinsam mit Alain Barbero den Literatur- und Fotoblog »Café Entropy«. Zuletzt erschienen ihr Roman »Friss oder stirb« (Kremayr & Scheriau 2020) und das von ihr herausgegebene Remake von Schnitzlers Reigen: »Reigen Reloaded« (Kremayr & Scheriau 2021).

Zum Buch:

Nachdem Nava Ebrahimi 2021 den Bachmannpreis erhalten hatte, erregte ein Foto die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die Autorin war während ihrer virtuellen Lesung vor einer weißen Wand zu sehen gewesen; ein Bild auf Twitter zeigte später den ganzen Raum: Die weiße Wand gehört in das Spielzimmer ihres Sohnes, die Autorin sitzt an einem Tisch in der Mitte, freut sich über den ihr eben verliehenen Preis, während sich um sie herum Legosteine türmen. Das Bild stellt eine zentrale Frage in der gegenwärtigen Literaturlandschaft: Wie ist das, Mutter und Autorin zu sein? Warum schließt der deutschsprachige Literaturbetrieb Mütter heute immer noch aus? Unter dem Motto „Mütter aller Länder, vereinigt euch, singt!“ will die von Barbara Rieger im vergangenen Jahr herausgegebene Anthologie das Schweigen brechen und über das Muttersein schreiben. Die Beiträge stellen politische Forderungen, reflektieren über Mutterschaft aus ganz verschiedenen Perspektiven und experimentieren zugleich mit neuen Formen des literarischen Ausdrucks. Mal energisch, mal spielerisch, klug und fantasiereich loten sie im Gewirr der Zuschreibungen und Erzählungen um das Muttersein Handlungsmöglichkeiten aus.

Zahlreiche aktuelle literarische und essayistische Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der Frage, wie Mutterschaft und Autorinnenschaft zusammenpassen, gelten doch bis heute beide als zwei Formen der Selbstverwirklichung, zwischen denen sich Frauen entscheiden müssen. Beides, so heißt es, verlangt unbedingte und ungeteilte Aufmerksamkeit und kann sich deshalb nur ausschließen. Ist Mutterschaft also das Ende jeglicher Kreativität, die über den häuslichen Rahmen hinausgeht? Mit ihren Versuchen, den festgefahrenen Diskurs zu öffnen, haben im angloamerikanischen Raum besonders Maggie Nelsons The Argonauts (2015) und Sheila Hetis Motherhood (2018) große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im deutschsprachigen Raum sind es vor allem Kollektive wie Writing with CARE/RAGE oder Other Writers Need to Concentrate, die auf die Marginalisierung von Eltern und Care-Arbeiter:innen im Literaturbetrieb hinweisen und zugleich nach neuen Formen des literarischen Ausdrucks suchen. Barbara Riegers Anthologie versammelt mit Lene Albrecht, Sandra Gugić und Barbara Peveling wichtige Stimmen dieser Gruppen und darüber hinaus sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Thema. Schlüsseltexte wie Virginia Woolfs A Room of One’s Own und die bereits oben genannten Texte von Maggie Nelson und Sheila Heti fließen dabei immer wieder in die Überlegungen ein.

Lakonisch und poetisch zugleich beginnt der Band mit Barbara Riegers Prosagedicht „Das Natürlichste der Welt“. Annahmen über das Muttersein, Ratschläge an Schwangere, Mythen, Diskussionen werden dem Erleben der Erzählerin gegenübergestellt. Der Text vereint auf beeindruckende Weise individuelles Erleben mit dem Allgemeinen des Mutterseins, ohne körperliche Details zu beschönigen („was mir keiner gesagt hat…“). Einer der beeindruckendsten Beiträge ist Sandra Gugićs Text „Blut, Milch, digitale Tinte“. Hier schreibt die Autorin in Anlehnung an Hélène Cixous: „Ich bin digitale Tinte und Milch, ich bin mein Cursor..“ und findet so Worte für ihre zwei Welten, die der Mutter und die der Schreibenden, und den Zwiespalt, dass ihr Kind ihren Körper verlangt, ihr Schreiben jedoch die Abwesenheit ihres Körpers vom Kind fordert. Sie fragt, warum Mutterschaft – neben der Dekoration des Eigenheims – so lange als einzige Form weiblicher Kreativität galt, und stellt fest, dass der Literaturbetrieb keine Mütter unterstützt. Daran schließen Lene Albrecht und Barbara Peveling an, die in ihren Texten darüber reflektieren, was es bedeutet, die Care-Arbeit anderen, bezahlten Care-Arbeiter:nnen zu überlassen, um schreiben zu können. Dass es ein Privileg sein kann, eine schreibende Mutter zu sein und sich bezahlte Care-Arbeit leisten zu können, wird unter anderem von Nava Ebrahimi reflektiert, die in ihrem Text, der mit dem Titel „Nach Bachmann“ beginnt, auch über Mutterschaft und Autorinnenschaft nachdenkt. Teresa Bücker wiederum fragt: „Ist es radikal, ein Kind ohne Partner zu bekommen?“, und Gertraud Klemm berichtet über die Erfahrungen einer weißen Adoptivmutter Schwarzer Kinder in Österreich.

Die Herangehensweise der Autorinnen ist sehr unterschiedlich, und so bleibt die Lektüre abwechslungsreich. Neben essayistischen, autobiografischen, autofiktionalen Texten gibt es viele, die frei mit Formen und Gattungen experimentieren. Katja Bohnet wählt für ihren Text „Meine Mutter, die Serienmörderin“, zum Beispiel den fiktionalen Rahmen eines Psychothrillers, der überaus eindrücklich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter evoziert. Andrea Grill erzählt in „Bist du bereit, ein Held zu sein?“ aus der Perspektive eines Jungen, und Elena Messner wendet sich mit ihrem Brief an eine eben Mutter gewordene Schriftstellerin und beschreibt ihr das „Dichten als wildeste Form von Elternschaft“. Den Band beschließt dann Simone Hirths Manifest „Wir wollen was“: Müttern sei es lange nicht erlaubt gewesen, etwas zu wollen, und sie hätten geschwiegen. Aber das Schweigen sei beendet, und „wenn Sprechen nicht wirkt, wird gesungen. Hier singen sie nun, laut und direkt und wild durcheinander“. Der Band Mutter werden. Mutter sein ist das beste Beispiel dafür.

Alena Heinritz, Innsbruck