Zum Buch:
Sofortige, größte, allergrößte Sehnsucht nach dem Elsass setzt ein beim Lesen von Bären aus der Rue des l’Ours von Marie Despelchins und Serge Blochs – und selbst als Fleischverweigerin bekommt man größte Sehnsucht nach der Charcuterie dieses Landstrichs. Sofortige, größte, allergrößte Liebe für das seltsame Gebilde namens Familie setzt ein, wenn man Bären liest, ein Buch, das im Kunstanstifter-Verlag erschienen und eine Liebeserklärung des Ich-Erzählers an seine Familie ist. Der Autorin Desplechin und dem Illustrator Bloch, um dessen Kindheit das Buch kreist, ist ein kleines Kunstwerk gelungen, denn hier wird nicht nur liebe- und humorvoll aus dem schönen Städtchen Colmar etwa zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg berichtet, sondern auch ebenso lustig mit spitzer Feder gezeichnet. Einer Feder, die an Sempé erinnert – aber man kann getrost die Vergleiche weglassen, denn Serge Bloch, mittlerweile für die Süddeutsche ebenso wie für den New Yorker tätig, ist selbst ein Held in seinem Metier.
Im Zentrum des kleinen Büchleins steht die hohe Kunst des Metzgerns, Familienlebens und Großwerdens. Von Schönfärberei wird hier wenig gehalten. Da kracht es ganz gehörig zwischen den Familien, und man redet nicht miteinander, manchmal auch ein Leben lang. Da werden Hühner kopfüber mit durchschnittener Kehle aufgehängt, das Blut tropft langsam – und langsam stirbt das Federvieh.
Sylvain, der Vater des kleinen Serge, und sein Bruder Georges haben die väterliche „Boucherie Alexandre Bloch, charcuterie“ mit Widerwillen übernommen, Tante Thérèse arbeitet hinter der Theke (und sieht keinen einzigen Cent dafür), Mutter Sabine hilft im Krankenhaus und dankt dem Herrgott für die Erfindung der Konserven, insbesondere für Ravioli und Mischgemüse. Der Urgroßvater war französisch, der Großvater deutsch, der Vater französisch und 1940 „weder Franzose noch Deutscher noch sonst irgendwas. Halt, doch, er war Jude.“
Dieses schön gebundene, auf wunderbarem Papier gesetzte Buch erzählt mit der Familiengeschichte zugleich die Geschichte des Elsass, die Geschichte einer jüdisch-elsässischen Familie zwischen koscherer Metzgerei, Schule und Synagoge, und trotz aller Tragik und allem Unrecht, was nicht ausgespart wird, sind Die Bären aus der Rue de l’Ours vor allem eine Feier des Lebens, eines Lebens, aus dem mit Schreib- und Zeichenfeder die humorvollen Seiten hervor gekitzelt werden. Wer hätte gedacht, dass das stundenlange Studium der väterlichen Metzgerskunst in das Zeichenstudium des Filius mündet?
Vorgelesen ist diese kleine Geschichte auch schon für Kinder äußerst unterhaltsam und lehrreich, allerdings erst, wenn sie wie der Held der Geschichte endlich auf dem Lycée und nicht zu zart besaitet sind. Dann bietet das Buch allerhand Diskussionsstoff – aber man kann es auch im Stillen und ganz alleine genießen und dabei ein bisschen von der Charcuterie, dem Elsass und von Frankreich träumen.
Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt