Zum Buch:
In den siebziger Jahren reist Boris Lurie zurück in den Heimatort seiner Jugend: Riga. Seine Aufzeichnungen zeugen von der Suche nach einer Verankerung seiner Erinnerungen an das Rigaer Ghetto und den Massenmord in Rumbula in der Architektur und dem Bewusstsein der Gegenwart.
Boris Lurie überlebt, ebenso wie sein Vater, die Shoah – eine Unwahrscheinlichkeit, die für Lurie zum Knotenpunkt seiner Überlebensschuld und zum Ausdruck der konstanten Bedrohung und der Allgegenwart des Todes wird. Verdichtet wird das in einer Szene der Erinnerung: der Sohn entgeht der Deportation ins Konzentrationslager, weil er vor aller Augen und trotzdem unbemerkt den großen Platz des Appells überquert und sich in die Gruppe der Juden einreiht, die für das Arbeitslager eingeteilt worden sind. Niemand hält ihn auf; ein Fehler, ein unglaublicher Moment, der sich einreiht und zu einer Gegenwart verdichtet, in der Überleben jede Selbstverständlichkeit verloren hat. Eine weitere Szene, die den Roman beherrscht, ist der Marsch der JüdInnen aus dem Ghetto heraus — ein Loch im Zaun, hineingeschnitten zur besseren Organisation, bleibt als Mahnmal –; sie laufen ihrer Erschießung entgegen. In der ersten und zweiten Aktion am 30. November und 8. Dezember wurden 25.000 Menschen in Rumbula ermordet. Darunter eine von Luries Schwestern, seine Mutter und Großmutter und seine erste Freundin.
Boris Lurie, dessen übrige Arbeit, sowohl als Autor als auch als Künstler, sich auch mit der Shoah auseinandersetzt, insbesondere in Bildern, welche die Massenhaftigkeit der Hinrichtung mit Vorstellungen von Pornografie verbindet, findet in diesen als Vignetten geschriebenen Erinnerungen einen deutlich leiseren, aber nicht weniger dichten Ausdruck. Nicht zuletzt legt Lurie in diesen Aufzeichnungen nicht nur einen Fokus auf die Architektur und Organisation während der Errichtung des Ghettos und der Massengräber in und um Riga, auch die politische Lage und Stimmung in Lettland, die allgemeine Haltung zur Roten Armee und dann zum Einmarsch der Deutschen, erhalten Raum. In Riga ist sowohl künstlerisch als Zeugnis von Trauma, Schuld und Anklage hoch interessant als auch durch seine genauen Beschreibungen und dem daraus sprechenden Interesse für den Alltag und die Organisation der Barbarei. Luries exzessive Recherche, die dem Buch zugrunde liegt, spricht für beide Aspekte und macht es zu einem Werk, das in der autobiographischen Literatur im Allgemeinen und der Erinnerungsliteratur zur Shoah im Besonderen einen festen Platz verdient hat.
Theresa Mayer, Frankfurt a. M.