Zum Buch:
Ibrahima Balde wurde 1994 in Conakry geboren. Vermutlich wissen die wenigsten von uns, dass Conakry die Hauptstadt eines kleinen westafrikanischen Landes ist, und noch weniger haben eine Vorstellung von den Lebensbedingungen der Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen. Ihre Gesichter tauchen manchmal kurz in den Nachrichten auf, wenn es um Flüchtlingslager in Moria und Kara Tepe oder um Rettungsschiffe geht, die versuchen, an den Küsten Italiens mit Geretteten an Land zu gehen. Warum nehmen diese Menschen tausende Kilometer Weg in Kauf, um nach Europa zu kommen?
Warum „diese Menschen“ sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa machen, bleibt offen. Wohl aber erfahren wir in Kleiner Bruder, wie es ein junger Afrikaner durch die Wüste und mehrere Länder über das Meer nach Spanien schaffte, obwohl er eigentlich LKW-Fahrer in Guinea werden wollte.
Ibrahima selbst wurde schon als kleiner Junge von seiner Mutter und seinen Geschwistern getrennt, um mit seinem Vater in der Hauptstadt Conakry Geld für die Familie zu verdienen. Der Vater verkaufte Hausschuhe an einem kleinen Straßenstand in der Hauptstadt. Ibrahima half seinem Vater bei dem kleinen Geschäft, bis der erkrankte und starb. Ab diesem Zeitpunkt war er als ältester Sohn für das Auskommen der Familie verantwortlich. Mit dreizehn versuchte er sein Glück im Nachbarland Liberia, musste jedoch zurück in das kleine guineische Dorf Thiankoi, als auch seine Mutter krank wurde. Ibrahima blieb, bis es seiner Mutter besser ging, und suchte sich eine neue Arbeit in einem anderen Teil des Landes, bis er erfuhr, dass sein jüngerer Bruder Alhassane sich auf die Fluchtroute nach Europa begeben hatte und mittlerweile in Libyen war. Alhassane seinem Schicksal zu überlassen, war keine Option. Dass Ibrahima kein Geld für eine längere Reise besaß, niemanden in Mali oder Algerien kannte, die es auf dem Weg nach Libyen zu durchqueren galt, und dass er nur einige Brocken arabisch sprach, hielt ihn nicht von seiner Reise ab.
Die Beschreibung dieser Suche auf staubigen Straßen, ohne Essen und mit wenig Wasser, durch Flüchtlingscamps, in denen Menschen wie Sklaven zur Arbeit verkauft wurden, immer in Angst, von bewaffneten Schleusern betrogen oder getötet zu werden, ermöglicht einen aufrüttelnden Blick auf das sonst oft eher theoretische Thema Migration. Ibrahima Baldes Geschichte ist berührend und erschütternd. Und es ist nur eine Geschichte von Tausenden. Dass der Suhrkamp Verlag einem Geflüchteten mit diesem Buch eine Stimme und ein Gesicht gegeben hat, können wir nutzen, um besser zu verstehen, was an den Rändern Europas geschieht.
Während wir uns hier in Deutschland seit Monaten mit den Themen Corona, geschlossenen Läden, mit Impfpriorisierung und der Einschränkung persönlicher Freiheiten beschäftigen, sollten wir nicht vergessen, was auf dem Mittelmeer, den griechischen Inseln oder in Lampedusa tagtäglich geschieht. Wenn die Stimmen lauter werden, die unser Recht auf Shopping und Sommerurlaub einklagen, kann uns das bewusst machen, wie privilegiert wir sind. Und es geht keinesfalls darum, soziale Isolation alter Menschen oder existenzbedrohende Umstände von Kulturschaffenden mit den prekären Lebensumständen in Flüchtlingslagern zu vergleichen.
Unsere Privilegien geben uns jedoch die Möglichkeit, mit darüber zu entscheiden, ob wir in Zukunft abgeschottet und konsumorientiert leben oder uns nicht doch lieber gemeinsam eine Version der Zukunft erschaffen wollen, die ein besseres Leben für alle ermöglicht. Wer sich ein bisschen Mut „anlesen“ will für die anstehenden Veränderungen, dem seien neben Kleiner Bruder noch die Bücher von Maja Göpel, Harald Welzer oder Das gute Leben für alle des I.L.A. Kollektivs ans Herz gelegt.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt