Zum Buch:
In ihrem vorherigen Buch Frei, Erwachsenwerden am Ende der Geschichte hat Lea Ypi sich in romanhafter Form mit ihrer Kindheit und Jugend während der Diktatur in Albanien sowie mit der Geschichte ihrer Familie beschäftigt, in der ihre Großmutter Leman Ypi eine wichtige Rolle spielte. In ihrem neuen Buch Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme, steht die Großmutter nun im Zentrum. Als Ypi in den sozialen Medien ein Foto entdeckt, das ihre Großeltern 1941 auf der Hochzeitsreise in Cortina d’Ampezzo zeigt, und die Kommentare dazu die Großmutter abwechselnd als kommunistische oder faschistische Kollaborateurin bezeichnen, gerät Ypis Bild von ihr ins Wanken. Wer war diese Frau, die mitten im Krieg in einem Pelzmantel vor einem Luxushotel in die Kamera lächelte?
Die Familie, aus der die Großmutter, Leman Leskoviku, herkam, stammte ursprünglich aus Albanien und gehörte im Osmanischen Reich zur Aristokratie. Sie selbst wuchs in einem wohlhabenden und gebildeten Elternhaus in Saloniki auf. Um einer Ehe mit einem ihr zutiefst unsympathischen Geschäftspartner ihres Vaters zu entkommen, geht sie im Alter von achtzehn Jahren auf eigene Faust nach Albanien, um in Tirana zu studieren. Dort lernt sie Asllan Ypi kennen, dessen Vater Premierminister von Albanien war. Asllan hatte in Paris studiert und war in der aufkommenden sozialistischen Bewegung engagiert.
Die Geschicke beider Familien waren eng mit der wechselvollen Geschichte und Politik ihrer Länder verflochten, in denen sich die historischen Verwerfungen einer ganzen Region abbilden, vom Osmanischen Reich über dessen Zerfall bis zum Aufstieg der Nationalstaaten auf dem Balkan. Auch Albanien erklärte sich für unabhängig, wurde nach dem Ersten Weltkrieg kurz eine Republik, dann eine Monarchie, bis 1939 Mussolinis faschistische Truppen einmarschierten und 1941 die deutsche Armee das Land besetzte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzten sich die kommunistischen Partisanen durch, deren Anführer Enver Hoxha vierzig Jahre lang als Diktator regierte. Unter seinem Regime wurden Leman und Asslan verfolgt und zu Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Zum Verständnis der verwirrenden familiären, geschichtlichen und geografischen Verhältnisse hilft sehr, dass dem Buch ein Verzeichnis der handelnden Personen, eine Zeittafel und zwei Karten vorangestellt sind.
Lea Ypi hat die Orte besucht, an denen ihre Großmutter lebte. Sie hat in Archiven recherchiert, nach Dokumenten gesucht und mit Menschen gesprochen, die sich noch an Leman erinnerten. Trotz ihrer über Jahre dauernden Nachforschungen ließen sich nur Bruchstücke des Lebens der Großmutter archivalisch nachweisen, und selbst in diesen Fundstücken gab es viele Unstimmigkeiten. Die bleibenden Leerstellen, die sich nicht eindeutig belegen ließen, hat Lea Ypi mit ihrer Imagination aufgefüllt. Im Text wechseln Berichte über ihre Nachforschungen mit romanhaften Passagen und Reflektionen über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns. Sie fragt sich, wie weit es vertretbar ist, im Leben anderer Menschen nach einer „Wahrheit“ zu suchen, die es, wie ihre Forschungen zeigen, so eindeutig nicht gibt. Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme ist ein spannendes, lebendiges und erschütterndes Buch, in dem es Lea Ypi gelingt, den im Nebel verschwundenen Großeltern zurückzugeben, worum diese in ihrem Leben am meisten gekämpft haben: ihre Würde.
Ruth Roebke, Frankfurt am Main