Zum Buch:
Kaiser Karl V. – in dessen Reich die Sonne angeblich nicht unterging – hat dem Thron entsagt und sich in das einsam in der Extremadura gelegene Kloster San Yuste zurückgezogen. Hier hofft er, sich selbst zu ergründen und auf den Tod vorzubereiten. Um ihn sind – neben ein paar Bediensteten – sein Arzt, sein Beichtvater, ein Sekretär und der Majordomus. Doch obwohl die äußeren Bedingungen stimmen, zu Ruhe und innerer Einkehr findet er nicht. Müde und gereizt quält er sich durch die Tage und Nächte.
Karl, der durch einen zu starken Unterkiefer missgestaltet ist, hat sich im Laufe des Lebens zu viel abverlangt. Jetzt ist er achtundfünfzig, sein Körper ist malade, Fieberanfälle und eine schwere, stets aufs Neue durch seine Fresslust genährte Gicht plagen ihn. Er kann sich kaum noch alleine bewegen und versucht, die starken Schmerzen mit Laudanum zu besänftigen, das ihm zu einem gnädigen Zustand zwischen Wachen und Träumen verhilft. In seinem Spezialstuhl im Garten liegend sieht er den elfjährigen Pagen Geronimo, seinen illegitimen Sohn, der aber von seiner Herkunft nichts weiß. Er wechselt ein paar Worte mit dem Jungen, und plötzlich kommen ihm die Worte: „Vielleicht sollten wir gemeinsam durchbrennen.“ Als der Junge nachfragt, antwortet Karl: „Um Mitternacht, zwei Pferde bei der unteren Gartenpforte.“
Damit beginnt ein völlig unwahrscheinliches, fantastisches, amüsantes, berührendes Abenteuer – die Éducation sentimentale eines Greises hinein ins pralle Leben. Zusammen mit einem Geschwisterpaar, das Karl und Geronimo aus den Fängen übler Gesellen befreit, machen sie sich auf den Weg nach Laredo. „Zu keinem Zweck. Es ist nur ein Vorhaben“, antwortet Karl auf die Frage, warum gerade Laredo. Auf dem Weg dorthin erlebt Karl, was ihm weder in der Einsamkeit des Herrschers noch in der Stille des Klosters vergönnt war: Er beginnt, sich für andere Menschen zu interessieren, gewinnt Gefährten, erlebt Freundschaft und eine altersweise Liebe. Am Ende kann er nun, da er erfahren hat, was es bedeuten kann, wirklich zu leben, auch loslassen.
Es gibt eine Art der Unwahrscheinlichkeit und der Phantastik in Büchern, die beim Lesen jede Frage nach Plausibilität hinwegwischt, weil man sich umstandslos dem Text hingibt und weil das, worum es letztlich geht, tiefe Schichten der Wahrheit berührt, nachdenklich macht und auch froh. Lesend befindet man sich auf zwei Ebenen: einerseits der der Welt der Abenteuer, anderseits der Karls, der bleibt, was er zu Beginn war – alt und krank, dem Tod entgegengehend. Wie leichthändig Geiger diese Doppelbödigkeit beschreibt, ist meisterhaft. Sein liebevoller Blick auf die Gebrechlichkeit und das Sterben dieses alten Mannes erinnert an sein Buch Der alte König in seinem Exil, der Schilderung des Verschwindens seines Vaters in die Demenz. Reise nach Laredo ist genauso berührend und weise. Ein wundervolles Buch!
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.