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Tanz des Verrats

Autor
Enard, Mathias

Tanz des Verrats

Untertitel
Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Beschreibung

Ein namenloser Deserteur in einem nicht näher bezeichneten (Bürger-) Krieg versucht, sich über eine nicht näher bezeichnete Grenze ans Meer durchzuschlagen. Er kennt die Gegend; auf Hilfe der Bewohner kann er nicht zählen. Sie wissen, wer er ist – ein Schlächter, Mörder und Vergewaltiger. Das ist die eine Geschichte. Die andere: Ein Kolloquium auf einem Haveldampfer zu Ehren des (fiktiven) Mathematikers Paul Heudeber – Kommunist, Widerstandskämpfer, KZ-Überlebender. Heudeber hat als Häftling in Buchenwald auf losen Zetteln mathematische Grundprobleme gelöst und Liebesgedichte notiert. Wenn es überhaupt eine Verbindung zwischen beiden Geschichten gibt dann ist es, wie immer bei Mathias Enard, Gewalt.

Tanz des Verrats schockiert, verstört und verändert den Blick auf eine Welt, die heute mehr denn je von Gewalt geprägt ist. Ein wichtiges, großartiges (und großartig übersetztes) Buch, das man sich unbedingt zumuten sollte.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Berlin, 2024
Seiten
256
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-446-27956-8
Preis
25,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Mathias Enard, 1972 geboren, lebt in Barcelona und Niort. Für den Roman Kompass erhielt er den Prix Goncourt, 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2021 erschien sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber und zuletzt Der perfekte Schuss (2023).

Zum Buch:

Ein namenloser Deserteur in einem nicht näher bezeichneten (Bürger-) Krieg versucht, sich über eine nicht näher bezeichnete Grenze ans Meer durchzuschlagen. Er kennt die Gegend, die er erschöpft und hungrig durchstreift; er ist dort aufgewachsen. Auf Hilfe der Bewohner kann er nicht zählen, sie wissen, wer er ist – ein Schlächter – und was er getan hat – gemordet, gefoltert, vergewaltigt. Sie würden ihn umbringen, wenn sie ihn fänden, genauso wie die Kameraden von der Armee ihn ohne Zögern hinrichten würden. Sprache und Erzählperspektive ziehen uns immer stärker in die innere und äußere Welt dieses Menschen hinein, in seine Erinnerungen oder besser Erinnerungsfetzen, manchmal Gebete, manchmal Gedichte. Das ist die eine Geschichte.

Die andere: Ein Kolloquium auf einem Haveldampfer zu Ehren des (fiktiven) Mathematikers Paul Heudeber – Kommunist, Widerstandskämpfer, KZ-Überlebender. Heudeber hat als Häftling in Buchenwald auf losen Zetteln mathematische Grundprobleme gelöst und Liebesgedichte notiert. Die nach dem Krieg daraus entstandene Veröffentlichung enthielt zum Erstaunen der Mathematiker beides; darauf hatte Heudeber bestanden. Es waren Gedichte an die große Liebe seines Lebens, die der Verhaftung entgangen war, aber nach der Befreiung Buchenwalds mit dem Geliebten wieder zusammenlebt, mit ihm eine Tochter hat, sich aber dann gegen das Leben in der DDR entscheidet und in die westdeutsche Politik wechselt, während er seinen Überzeugungen und dem Teil Deutschlands, in dem er sie verwirklicht sieht, treu bleibt. Erzählt wird die Geschichte dieser Liebe und ihrer beiden Protagonisten von der Tochter. Wo in der Geschichte des Deserteurs alles – Ort, Zeit, Namen – in der Schwebe bleibt, bewegen sich die Leser hier auf scheinbar sicherem Grund. Die Sprache ist sachlich, die Protagonisten haben genau geschilderte Biographien, wir kennen den Ort und das Datum des Kolloquiums: Berlin, 10. September 2001. Und damit wissen wir, was bevorsteht.

Was haben diese beiden ineinander verschachtelten Geschichten (die bis zum Schluss disparat bleiben) nun miteinander zu tun? Die Verbindung, das hat der Autor ausdrücklich erklärt, bleibt den Lesern überlassen. Und natürlich geht es auch in der zweiten Geschichte, darauf verweist das Datum, wie immer bei Mathias Enard um Gewalt. Und es gibt andere Hinweise. Während der französische Titel, Déserter, die eine Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen scheint, verweist der deutsche Titel auf das Element des Verrats, das ja auch dem Desertieren innewohnt. Denn „Verrat“ ist hier ausgesprochen vieldeutig zu verstehen. Da ist der Verrat des Deserteurs an seiner Einheit, der Verrat des Mörders nicht nur an seinen Opfern, sondern auch an sich selbst, aber auch der Verrat in der Liebe, sei es aus Not, sei es aus freiem Willen, der Verrat politischer Ideale, der auch hier wieder ein Verrat an sich selbst ist. Und dann wird der Begriff in einer Schlüsselszene in sein Gegenteil verkehrt: den „Tanz des Verrats“ tanzt ein Liebespaar kurz vor der Hochzeit und offenbart darin dem jeweils anderen alle Geheimnisse, seien es gute oder schlechte, und schafft so die Offenheit, ohne die ein gemeinsames Leben und eine gemeinsame Liebe nicht möglich sind.

Tanz des Verrats schockiert, verstört und verändert den Blick auf eine Welt, die heute mehr denn je von Gewalt geprägt ist. Ein wichtiges, großartiges (und großartig übersetztes) Buch, das man sich unbedingt zumuten sollte.

Irmgard Hölscher, Frankfurt