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Die geheimste Erinnerung der Menschen

Autor
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen

Untertitel
Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Beschreibung

Es ist der reine Zufall, der den junge senegalesischen Studenten und angehenden Schriftsteller Diégane mit der skandalumwitterten Schriftstellerin Siga D. in Kontakt bringt. Sie, die weitaus ältere, provoziert ihn so lange, bis er sie in ihr Hotelzimmer begleitet. Aber statt des von ihm so erhofften wie gefürchteten Liebesspiels erwartet ihn eine Lesung – und zwar aus einem Buch, das nur noch ein Mythos ist, weil es nach seinem hochgelobten Erscheinen in den dreißiger Jahren aufgrund diverser Plagiatsvorwürfe vom Markt genommen und komplett eingestampft wurde: Das Labyrinth des Unmenschlichen von T.C. Eliane. Und jetzt drückt es ihm Siga D., die „Spinnenmutter“, einfach so in die Hand und schickt ihn damit nach Hause!
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Verlag, 2022
Seiten
448
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-446-27411-2
Preis
27,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Mohamed Mbougar Sarr, geboren 1990 in Dakar, wuchs im Senegal auf und studierte in Frankreich Literatur und Philosophie. Er hat bereits drei Romane veröffentlicht, für die er u.a. mit dem Prix Stéphane-Hessel und Grand prix du roman métis ausgezeichnet wurde. Für “Die geheimste Erinnerung der Menschen”, seinem ersten Werk, das auf Deutsch erscheint, erhielt er 2021 den Prix Goncourt.

Zum Buch:

Es ist der reine Zufall, der den junge senegalesischen Studenten und angehenden Schriftsteller Diégane mit der skandalumwitterten Schriftstellerin Siga D. in Kontakt bringt. Genauer gesagt, erkennt er sie in einer Pariser Bar und baggert sie auf ziemlich plumpe, wenn auch zum Glück nicht humorlose Weise an. Sie, die weitaus ältere, weiß den Spieß schnell umzudrehen und provoziert ihn so lange, bis er sie in ihr Hotelzimmer begleitet. Aber statt des von ihm so erhofften wie gefürchteten Liebesspiels erwartet ihn eine Lesung – und zwar eine Lesung aus einem Buch, das nur noch ein Mythos ist, weil es nach seinem hochgelobten Erscheinen in den dreißiger Jahren aufgrund diverser Plagiatsvorwürfe vom Markt genommen und komplett eingestampft wurde: Das Labyrinth des Unmenschlichen von T.C. Eliane. Und jetzt, auf einem Pariser Hotelbalkon, drückt es ihm Siga D., die „Spinnenmutter“, einfach so in die Hand und schickt ihn damit nach Hause!

Von nun an wird ihm das Buch zur Besessenheit, genauso wie das Schicksal des Autors: Wer war T.C. Eliane? Wohin ist er nach dem anfänglichen Erfolg und dem anschließenden Skandal verschwunden? Lebt er noch oder ist er in Einsamkeit gestorben? Diégane macht sich auf die Suche, eine Suche, die ihn durch das ganze 20. Jahrhundert und mehrere Kontinente führt, mit einer Fülle von Menschen zusammenbringt, die alle nicht nur ihr Stück zum Puzzle beizutragen, sondern auch ihre eigene Geschichte zu erzählen haben, ohne die das Puzzle nicht vollständig wäre. Dieser Weg ist so verschlungen, dass er sich unmöglich nacherzählen lässt, das muss man schon selbst lesen.

Über die Sprache, die dank der überragenden Übersetzung nichts an Schönheit verloren hat, sind in den meisten mir bekannten Rezensionen – zu Recht – ganze Hymnen geschrieben worden. Die Wechsel zwischen „Hohem Ton“ und Straßenslang, zwischen erschütterndem Drama und brüllend komischen Situationen sind atemberaubend. Sarr greift mit sicherer Hand in den Zauberkasten der Literatur und zieht mit großer Eleganz die Kaninchen aus dem Hut und die Tauben aus dem Ärmel. Er bedient sich meisterhaft und spielerisch zugleich aller nur denkbaren erzählerischen und literarischen Mittel: Tagebuchausschnitte, Briefe und Rezensionen, kurze und lange Erzählungen, Perspektiv- und Erzählerwechsel manchmal mitten im Satz, Surrealismen, unerwartete Sprünge in Raum und Zeit, Biographeme, setzt ungebräuchliche, aber funkelnde Worte ein – kurz: alles, was die Kunst der Literatur zu bieten hat.

Die geheimste Erinnerung der Menschen eröffnet den Blick auf die ganze Welt, in der es übrigens keineswegs nur funkelt und glänzt. Es erzählt von Rassismus, vom Kolonialismus mit all seinen schrecklichen Folgen, von Krieg und Gräueln, Elend und Armut, Mord und Schuld und dem Kampf dagegen. Was der Autor dem entgegensetzt, ist die Ästhetik der Literatur und deren Möglichkeit, die Leiden der realen Welt in der literarischen zwar nicht zu heilen, aber zumindest erträglicher zu machen. Ein Buch also, das Politik, Tragik, Komik, alltägliches Leben mit dem immer erkennbaren Anspruch auf Wahrhaftigkeit erzählt – ganz große Literatur eben.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a. Main.