Zum Buch:
»Liebe Mutter,
gestern habe ich etwas gesehen, das ich niemals vergessen werde. Es war eines dieser Kriegsverbrechen, für das die Deutschen bekannt sind. Diesmal jedoch waren (wir) die Amerikaner zu schnell da, sodass sie ihr Verbrechen nicht vertuschen konnten. Das Ganze hat sich in einer großen Scheune in einer Stadt namens Gardelegen zugetragen.«
Gardelegen ist eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, Altmarkkreis Salzwedel. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich dort Einrichtungen der Wehrmacht und Wartungseinheiten der Luftwaffe. Nach geringfügigem Widerstand wurde Gardelegen Mitte April 1945 von Einheiten der 102. US-amerikanischen Infanteriedivision eingenommen.
Bei einem der ersten Patrouillengänge in die Nachbarortschaften entdeckten die Soldaten eine Rauchfahne oberhalb eines etwa zwei Kilometer entfernten Hügels. Als sie den Kamm erreicht hatten, bot sich den meist jungen Männern ein grausamer Anblick: In der Scheune waren etwa 1000 Menschen gestorben, die meisten bei lebendigem Leib verbrannt, andere in dem Moment erschossen, als sie versucht hatten, unter den geschlossenen Scheunentoren herauszukriechen.
In den Tagen vor dem Eintreffen der Amerikaner waren in Gardelegen mehrere Todesmärsche von KZ-Häftlingen zusammengetroffen. Da die Wehrmachtsoldaten damit rechnen mussten, schon innerhalb der nächsten Stunden auf die rasch vorrückenden US-Einheiten zu stoßen, trieben sie die zum Großteil völlig entkräfteten Häftlinge in die Feldscheune, deren Boden zuvor mit Stroh ausgelegt und dann mit Benzin übergossen worden war. Nachdem sie Feuer gelegt hatten, warfen sie Handgranaten durch ein letztes offenes Tor und schossen anschließend mit Panzerfäusten in die Menge. Sie wollten ganz sicher gehen.
In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs wurden im gesamten Restreich Konzentrationslager aufgelöst und deren Insassen evakuiert. All diejenigen, die noch halbwegs aufrecht gehen konnten, wurden auf sogenannte Todesmärsche geschickt, alle anderen wurden sofort erschossen. Die Verschleppung erfolgte meist überstürzt, es mangelte an Wasser und Verpflegung, die meisten gingen barfuß, halbnackt, wer nicht weiterkonnte, wurde getötet und im Dreck verscharrt. Es kam auch vor, dass Häftlingen die Flucht gelang, einzeln oder in kleinen Gruppen. Aus den jeweiligen Dörfern und Gemeinden meldeten sich mit Flinten und Stöcken bewaffnete Zivilisten freiwillig, um an der anschließenden Hetzjagd teilzunehmen.
Doch sind die Todesmärsche in der Regel nicht als letzte Vernichtungswaffe gegen die Juden zu sehen; mehrheitlich fanden sich unter den Häftlingen Menschen aus Russland, Polen, Frankreich, Belgien und Deutschland.
Nach zehnjähriger Forschungsarbeit hat Daniel Blatman hier ein Werk vorgelegt, das ganz neue Einsichten in die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs ermöglicht.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln