Zum Buch:
Spätestens mit der Erschießung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo im Juni 1914 war wohl jedem Deutschen klar, dass die explosive Lage auf dem Kontinent jederzeit in einen Krieg münden konnte. Dass dieser mit einhelligem Hurra-Patriotismus von der gesamten Bevölkerung begrüßt wurde, wird zwar immer noch oft verbreitet, ist unter Historikern jedoch weitgehend widerlegt. In Wirklichkeit gab es ein breites Spektrum verschiedener Meinungen und Gefühle in der Bevölkerung; sie reichten von begeisterter Zustimmung bis zu klarer Ablehnung, und das nicht nur bei kaisertreuen Bürgern oder Sozialdemokraten.
Wie unterschiedlich die Stimmung unter den Deutschen kurz vor und während der ersten Kriegsmonate – also von Juni bis Oktober 1914 – war, zeigt Tillmann Bendikowski am Beispiel von fünf Personen:
Alexander Cartelieri, Historiker mit dem Schwerpunkt mittelalterliche französische Geschichte, international anerkannt, wandelt sich im Laufe dieser kurzen Zeit unter dem Einfluss der Propaganda und der Haltung seiner Kollegen zum begeisterten Kriegsbefürworter. „Belgien ist unser“ notiert er im Oktober, und macht sich Gedanken darüber, wie die eroberten Gebiete für das Deutsche Reich nutzbar gemacht werden können.
Der siebzehnjährige Wilhelm Eildermann, linker Sozialdemokrat, verzweifelt fast an der sich wandelnden Haltung seiner Partei zum Krieg. „Burgfriedenspolitik“ und die Befürwortung der Kriegskredite bestärken ihn jedoch in seiner klaren Ablehnung dieser Politik. Er wünscht sich – wenn es schon zum Krieg kommen muss – eine schnelle Niederlage und hofft, dass diese Erfahrung zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland führen wird.
Gertrud Schädla, eine junge, und, wie für den Beruf gefordert, unverheiratete Grundschullehrerin, ist fest verankert im protestantischen Glauben. Sie bangt um zwei ihrer Brüder, die gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden sind. Halt findet sie in der protestantischen Kirche, aber da diese sich klar auf die Seite der Kriegsbefürworter gestellt hat, zweifelt auch sie nicht an der Richtigkeit des Krieges.
Ernst Stadler hätte im September 1914 eine Professur in Toronto antreten sollen. Für den begabten Literaturwissenschaftler und Lyriker ändert der Krieg die gesamte Lebensplanung. Als Deutsch-Elsässer fühlt er sich beiden Ländern verbunden, aber seine besondere Liebe gilt Frankreich . Als Leutnant der Reserve wird er sofort eingezogen. Sein Tagebuch schildert plastisch den Alltag der Soldaten in den ersten Kriegswochen.
Und Wilhelm II? Das Bild des Kaisers entsteht nicht aus Tagebuchaufzeichnungen, sondern aus Zeugnissen seines unmittelbaren Umfeldes, und es ist vernichtend. Wobei dieses Umfeld – zumeist sind es die Generäle, deren Äußerungen zitiert werden – ebenfalls von einer erschütternden Borniertheit ist und jede Möglichkeit, die Katastrophe noch zu verhindern, beiseite wischt. Zumal hier ein Krieg begonnen wird, ohne dass eindeutige Kriegsziele formuliert werden. Und nicht nur das. Ende Oktober, dem Zeitpunkt, mit dem das Buch schließt, ist dem Generalstab bereits deutlich, dass der Krieg höchstwahrscheinlich nicht mehr zu gewinnen sein wird, und man fragt sich entsetzt, warum trotz diesem Wissen das Schlachten noch vier Jahre weiterging.
Tillmann Bendikowski verbindet die Qualifikationen des fundiert recherchierenden Historikers und des packend schreibenden Journalisten auf das Beste. Er stützt sich ausschließlich auf seine Quellen und belegt jede Aussage (die Fußnoten sind im Anhang), erzählt jedoch auf äußerst fesselnde und gut lesbare Art und Weise. Das macht „Sommer 1914“ zu einer erhellenden und oft erschütternden Lektüre.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt