Zur Autorin/Zum Autor:
Tony Judt, geboren 1948, studierte in Cambridge und Paris und lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Seit 1995 ist er Erich-Maria-Remarque-Professor für Europäische Studien in New York.
Es ist ein gewisser Trost, dass uns der am 6. August des Jahres im Alter von nur 62 Jahren verstorbene paneuropäische Polemiker Tony Judt im “Vergessenen 20.Jahrhundert” eine Sammlung von Aufsätzen hinterlassen hat, die ihn und uns überdauern werden.
Es ist ein gewisser Trost, dass uns der am 6. August des Jahres im Alter von nur 62 Jahren verstorbene paneuropäische Polemiker Tony Judt im “Vergessenen 20.Jahrhundert” eine Sammlung von Aufsätzen hinterlassen hat, die ihn und uns überdauern werden.
Das geschichtliche Grunderlebnis für Judt – als Sohn jüdischer Einwanderer aus Osteuropa geboren und in bescheidenen Verhältnissen in London aufgewachsen – war die Entstehung des britischen Wohlfahrtsstaates nach dem zweiten Weltkrieg. Seine Rekonstruktion dieser Erfolgs- und Verfallsgeschichte spurte den Weg für sein von historischer Urteilskraft und stilistischer Brillanz getragenes Meisterwerk “Postwar”, das 2006 in deutscher Übersetzung unter dem Titel “Die Geschichte Europas nach 1945” erschienen ist. Judt, der in Raymond Aaron und Albert Camus seine Vorbilder für verantwortungsvolles politisches Engagement entdeckte, profilierte sich seit Beginn der neunziger Jahre als Intellektueller mit Essays, in denen Geschichte, Tagespolitik und Portraits der geistigen Größen der Zeit einander wechselseitig erhellten.
Diese verstreuten Beiträge sind in der vorliegenden Veröffentlichung gebündelt und einerseits der Wiederbegegnung mit intellektuellen Persönlichkeiten wie Arthur Koestler, Primo Levi, Manés Sperber, Hannah Arendt, Louis Althusser, Eric Hobsbawm und Leszek Kolakowski gewidmet, deren Denken für die geistige Verortung des Westens bis zum Untergang des sowjetischen Imperiums prägend war, und andererseits eine transatlantische Suche nach den Spuren historischer Katastrophen und Konfliktlagen, deren verleugnete Spätfolgen die Stabilität der so genannten westlichen Wertegemeinschaft bedrohen: die Streichung der Vichy-Ära aus dem kollektiven Gedächtnis Frankreichs, die Entstaatlichung des EU-Kernlandes Belgien, Rumänien als subventionsbedürftiges Wrack am Rande der Geschichte, der Ausverkauf des kulturellen Erbes Großbritanniens durch den “Gartenzwerg” Tony Blair, die seit dem Sechstagekrieg fortschreitende existentielle Selbstgefährdung Israels durch die Verhärtung seiner Besatzungspolitik, die Aktualität der sozialen Frage vor dem Hintergrund der beschleunigten Globalisierungsprozesse und so weiter.
Dass Tony Judts streitbares Testament nahezu frei von theoretischen Erwägungen ist, mag in der Sache und den Schlussfolgerungen zum Widerspruch reizen, aber diese Lücke öffnet dem Leser den Raum für die individuelle Auseinandersetzung mit der in vielen anschaulichen Beispielen variierten Grundthese: Wir laufen Gefahr, so Judt, dass sich das 20.Jahrhundert in eine Gedenkstätte, eine pädagogisch nützliche Schreckenskammer verwandelt, deren Abteilungen “Sudetenkrise” oder “Pearl Habour”, “Auschwitz” oder “Gulag”, “Armenien”, “Bosnien” oder “Ruanda” überschrieben seien. Das Problem sei nicht die Darstellung , sondern die Botschaft: “dass all das nun hinter uns liegt, dass wir die Geschichte verstanden haben und nun, unbelastet von den Irrtümern der Vergangenheit, voranschreiten können in eine andere, bessere Zeit.”
Günter Franzen, Frankfurt am Main