Zum Buch:
Tony Judt war sicher einer der beeindruckendsten Gegenwartshistoriker, und seine letzten Bücher, „Die Geschichte Europas seit 1945“ und „Das vergessene 20. Jahrhundert“ waren bei einem breiten Publikum ein großer Erfolg. Sicher auch, weil Judt nicht nur Geschichtsschreiber, sondern auch Erzähler war.
Nachdem bei ihm in Alter von 60 Jahren die Nervenkrankheit ALS diagnostiziert wurde, die nach und nach den gesamten Körper lähmt, hat er trotzdem weiter gearbeitet, so lange es ihm möglich war. Dieses letzte Buch, „Das Chalet der Erinnerungen“, entstand, als er nur noch den Kopf bewegen und mühsam sprechen konnte. In langen Nächten, in denen er keinen Schlaf fand, hat er sich, um nicht gänzlich in der Schwärze der Gedanken zu versinken, an sein Leben erinnert. Damit er sich morgens, wenn er dann doch noch eingeschlafen war, an die nächtlichen Gedanken erinnern konnte, hat er eine Mnemotechnik benutzt, bei der Gedanken in Räumen abgelegt und beim erneuten Durchschreiten wieder abgerufen werden. Sein Gedächtnishaus war ein Schweizer Chalet, in dem er als Kind mit seiner Familie mehrmals die Winterferien verbracht hatte und das ihm, zu seiner eigenen Verblüffung, ganz präzise in Erinnerung war.
Dieses Buch Autobiographie zu nennen, wie es der Verlag auf dem Umschlag tut, weckt allerdings falsche Erwartungen. Es ist keine kontinuierliche, das ganze Leben umfassende Geschichte. Der Text besteht aus kurzen Kapiteln ohne zeitliche Abfolge oder inhaltlichen Zusammenhang, die Stationen und Situationen aus seinem Leben beschreiben – Schilderungen von Begebenheiten, Orten und Menschen. Judt erinnert sich an seine Kindheit und Jugend im Nachkriegsengland, an die Studienzeit, seine Hinwendung zum Marxismus und seine Abkehr davon, an Sommer, die er in einem Kibbuz in Israel verbrachte, an sein Verhältnis zu diesem Land und zum eigenen Judentum. All diese Begebenheiten bilden die Grundlage für Reflexionen über Themen wie Identität, Sprache, Politik, Gender, Intellektuelle, Bildungswesen und mehr. Zentral ist darin immer die Frage nach Wandel und Wechsel – der Sprache, des Geschlechterverhältnisses, politischer Positionen, der eigenen Identität. Er konstatiert, wie sich seine Welt seit seiner Kindheit verändert hat, und tut das ohne Verklärung, Larmoyanz oder blinden Fortschrittsglauben. Er beobachtet, beschreibt, wertet, aber er verurteilt nicht. Er ist selbstironisch, scharfzüngig, scheut keine unpopuläre Position, wenn sie seiner Überzeugung entspricht.
Verblüffend ist, wie unmittelbar persönlich einen die Geschichten ansprechen und wie nachhaltig sie im Gedächtnis bleiben. Was man anfangs leicht und oft amüsiert liest, hält sich erstaunlich hartnäckig in den eigenen Gedanken und beschäftigt weiter. Ich habe mich zum Beispiel dabei ertappt, Tage nach der Lektüre über meine Kindheit im Nachkriegsdeutschland nachzudenken. Darüber, dass ich kaum weiß, wie sehr die „Siegermächte“ an den Folgen des Krieges gelitten haben und ob es dort Verbitterung ausgelöst hat, dass Deutschland sich, trotz aller Kriegsverwüstungen dank amerikanischer Hilfe erstaunlich schnell erholte. Dass es in England bis in die 50er Jahre hinein noch Lebensmittelrationierungen gab, war mir neu.
Ebenso beeindruckend erweisen sich Judts Ausführungen zu den 68er Revolten und dem „linken“ Selbstbild der an ihnen Beteiligten. Vor allem der Hinweis, dass die einzigen Bewegungen, die seiner Meinung nach eine echte Revolution hätten werden können – die Aufstände in der Tschechoslowakei und Polen –, im Westen von denen, die die Gesellschaft vom Kapitalismus befreien wollten, komplett ignoriert wurden. Weil sie nicht ins Weltbild passten und weil die dort gewollte Freiheit nicht die hier gewünschte war.
Ein Thema wie das Verhältnis der Oxbridge-Studenten zu ihrem „Bedder“, dem Menschen, der sich in den Colleges um ihr persönliches Wohlergehen kümmert, wird en passant zu einer kleinen Studie über Klassengegensatz und –identität, „Girls, Girls, Girls“ entpuppt sich als kurzer Abriss der Veränderungen im Geschlechterverhältnis seit 1950 und „Wörter“ ist eine genaue Beobachtung des Zusammenhangs zwischen geordneter Sprache und geordnetem Denken und was uns das im Zeitalter von Twitter und SMS angeht.
„Das Chalet der Erinnerungen“ ist ein wunderbares Buch. Witzig und melancholisch, ironisch und poetisch. Das Beste ist, dass man die Umstände seines Entstehens fast vergisst. Aber nur fast. Denn am Ende weiß man, dass es kein weiteres Buch von Tony Judt mehr geben wird.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt