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Jörg Fisch ist Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an der Universität Zürich.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. das nationale Selbstbestimmungsrecht gehört, wie der Zürcher Historiker Jörg Fisch belegt, zu den erfolgreichsten Schlagworten des 20. und 21. Jahrhunderts. Spätestens seit der Festschreibung des Selbstbestimmungsrechts in der UNO-Deklaration über Bürgerliche und politische Rechte (1966) ist es unbestritten. Das ist verwunderlich, denn die Selbstbestimmung von Kollektiven beruht auf einer Paradoxie.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. das nationale Selbstbestimmungsrecht gehört, wie der Zürcher Historiker Jörg Fisch belegt, zu den erfolgreichsten Schlagworten des 20. und 21. Jahrhunderts. Spätestens seit der Festschreibung des Selbstbestimmungsrechts in der UNO-Deklaration über Bürgerliche und politische Rechte (1966) ist es unbestritten. Das ist verwunderlich, denn die Selbstbestimmung von Kollektiven beruht auf einer Paradoxie: Kollektive bestimmen über sich selbst nur, wenn es keine andere Herrschaft gibt. Räume und Zeiten ohne Herrschaft sind zwar denkbar, aber in der Realität nicht gegeben. Selbstbestimmung ist – so Fisch – ein Versprechen, das nicht eingelöst werden kann. Bestimmt ein Kollektiv sich selbst, trennt es sich von allen anderen Kollektiven. Lenins Definition des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, verstanden als Recht einer Gruppierung, zur staatlichen Lostrennung von fremden Nationalgemeinschaften, brachte das auf den Punkt. Nähme man den Satz wörtlich, verschwänden die meisten Staaten. Um das zu verhindern, beschränkte das Völkerrecht die Selbstbestimmung de facto auf die Zeit und auf den Fall der Entkolonialisierung.
Der Begriff Selbstbestimmungsrecht kam erst im 19. Jahrhundert auf. Der konservative Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl erkannte schon 1856 das Dilemma von Selbstbestimmung und Nation: Da die Nationalitäten auch in den Wohnsitzen nicht geschieden sind, kann man die eine nicht befreien, ohne die andere zu unterdrücken. Solange unklar ist, was ein Volk ausmacht und wer das Recht der Selbstbestimmung in welchen Verfahren legitim beanspruchen darf, führt ein unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht der Völker logisch zur Auflösung von bestehenden Grenzen und Staaten. Völker sind nicht homogen, und von keinem Volk kann automatisch vorausgesetzt werden, dass sich alle Mitglieder zur gleichen Volkszugehörigkeit bekennen, wenn sie diese wirklich selbst bestimmen können. Ein rigoros verstandenes Selbstbestimmungsrecht der Völker löst multireligiöse, multiethnische und multisprachliche Staaten auf oder verwandelt sie – zuletzt auf dem Balkan – in ein Schlachthaus von permanenten Bürgerkriegen. Plebiszite werden von einer Seite meistens abgelehnt, weil sie nur den status quo im Interesse der Mehrheit legitimieren. Die vermeintlich trennscharfen Kriterien – Sprache, Religion, Kultur – werden illusionär, je mehr Menschen aus- und einwandern und sich durch Heirat vermischen. Einzig die sowjetischen Verfassungen von 1923, 1936 und 1977 zogen aus der Paradoxie, dass rigorose Selbstbestimmung Staatsauflösung bedeutet, die zwingende Konsequenz und räumten den Sowjetrepubliken – auf dem Papier – das Recht auf freien Austritt aus der Union ein. Die Verfassung der USA dagegen verbietet den Einzelstaaten den Austritt: Sezession ist das Wesen der Anarchie (Lincoln). Fischs Studie besticht im systematischen Teil durch die Stringenz seiner Argumentation und im historischen Teil durch die kenntnisreiche Darstellung des politischen Umgangs mit den Illusionen und Paradoxien des Selbstbestimmungsrechts: Im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen betrieb Hitler den Anschluss Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei, und im Namen des Rechts auf Unabhängigkeit, wie das Selbstbestimmungsrecht in den USA heißt, zwangen die Nordstaaten den Süden in einem Krieg zur Union mit dem Norden. Rudolf Walther, Frankfurt am Main