Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Vanistendael, Judith

Penelopes zwei Leben

Untertitel
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Beschreibung

Comics? Graphic Novels? Bislang habe ich diese Kategorie von Neuerscheinungen eher gleichgültig überflogen. Bis mir in der Frühjahrsvorschau des Reprodukt Verlags eine Kurzbeschreibung ins Auge fiel: Penelopes zwei Leben, das aktuelle Buch der belgischen Autorin Judith Vanistendael. Es beschreibt den Alltag und die innere Zerrissenheit von Penelope, einer Frau, die versucht, ihre Identität als Ehefrau und Mutter mit ihrer Berufung als Chirurgin unter einen Hut zu kriegen. Penelope ist nicht einfach nur Chirurgin an einer belgischen Klinik, sondern fährt regelmäßig für einige Woche nach Syrien, um in Aleppo in Behelfskrankenhäusern Leben zu retten. Wie sehr ihr die Armut, das Leid der Menschen im vom Krieg völlig zerstörten Syrien und ihre eigenen Erlebnisse nachgehen und sie bis weit in ihr Leben zu Hause verfolgen, könnte man in Worten nicht eindringlicher beschreiben, als Judith Vanistendael es mit ihren Bildern vermag.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Reprodukt Verlag, 2021
Format
Gebunden
Seiten
176 Seiten
ISBN/EAN
978-3-95640-241-8
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Judith Vanistendael, geboren 1974 in Leuven, Belgien, studierte Kunst in Berlin, Gent und Sevilla und Bilderzählung an der Kunsthochschule Sint-Lukas in Brüssel. Dort arbeitet sie mittlerweile als Dozentin. Die Comicautorin illustriert auch Kinderbücher.

Zum Buch:

Comics? Graphic Novels? Bislang habe ich diese Kategorie von Neuerscheinungen eher gleichgültig überflogen. Bis mir in der Frühjahrsvorschau des Reprodukt Verlags eine Kurzbeschreibung ins Auge fiel: Penelopes zwei Leben, das aktuelle Buch der belgischen Autorin Judith Vanistendael. Es beschreibt den Alltag und die innere Zerrissenheit von Penelope, einer Frau, die versucht, ihre Identität als Ehefrau und Mutter mit ihrer Berufung als Chirurgin unter einen Hut zu kriegen. Penelope ist nicht einfach nur Chirurgin an einer belgischen Klinik, sondern fährt regelmäßig für einige Woche nach Syrien, um in Aleppo in Behelfskrankenhäusern Leben zu retten. Wie sehr ihr die Armut, das Leid der Menschen im vom Krieg völlig zerstörten Syrien und ihre eigenen Erlebnisse nachgehen und sie bis weit in ihr Leben zu Hause verfolgen, könnte man in Worten nicht eindringlicher beschreiben, als Judith Vanistendael es mit ihren Bildern vermag.

Ob es Penelopes Unfähigkeit ist, sich wieder im normalen Brüsseler Alltag zwischen Familienfesten und den Anforderungen ihrer pubertierenden Tochter einzufinden, oder die Anwesenheit des nicht abzuschüttelnden Geistes eines syrischen Mädchens, das Penelope auf dem OP-Tisch in Aleppo unter den Händen wegstarb: die Bilder sprechen eine unmissverständliche Sprache.

Es sind berührende und komplexe menschliche Regungen, die Vanistendael in ihren Zeichnungen aufs Papier bannt. Dass es ihr einerseits darum geht, die noch immer mit Vorurteilen belastete berufliche Verwirklichung von Frauen anzuprangern – ein männlicher Chirurg müsste sich wohl kaum in dieser Form für einen Auslandseinsatz bei Ärzte ohne Grenzen rechtfertigen –, andererseits darum, wie sehr die Protagonistin unter der Entfremdung von ihrer Tochter und dem eigenen Unverständnis für die normalen Probleme eines Teenagers im reichen, friedlichen Belgien leidet, wird eindringlich und erstaunlich differenziert in Bildern beschrieben.

Dass die Autorin selbst nie in Aleppo war, hat sie durch Gespräche ausgeglichen, die sie mit einem Vertreter von Ärzte ohne Grenzen geführt hat. Darüber hinaus traf sie 2017 bei einem Besuch des Flüchtlingslagers in Moria (der im Anhang von Penelopes zwei Leben kurz, aber eindrücklich dokumentiert ist) auf eine Ärztin, nach deren Vorbild Penelope entstanden ist. Vanistendael setzt den antiken, männlich dominierten Irrfahrten des Odysseus die Zerrissenheit einer modernen Penelope zwischen dem reichen Europa und Kriegsflüchtlingen an seinen Außengrenzen entgegen.

Graphic Novels, die sich formal eigentlich nur durch das Buchformat, inhaltlich aber durch ihre erzählerische Komplexität von Comics unterscheiden oder auch nur im Deutschen unterschieden werden, um vermeintlich „leichte“ Comic-Kost von ernsten oder schwierigeren Themen abzugrenzen, werde ich zukünftig sicher mit anderen, respektvolleren Augen sehen. Judith Vanistendaels Bücher sind in jedem Fall ein phantastischer Einstieg in dieses literarische Medium, das vermutlich oft unterschätzt wird, dass es aber dringend zu entdecken gilt.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt