Zum Buch:
Statt Der Vorhang hätte Beatrix Langners Roman auch Der Bagger heißen können oder Das Loch. “Zweiachtacht”, das Landschaften und Dörfer verschlingende Monstrum, das im Westen Deutschlands gierig und unbeirrt die Braunkohle aus der Erde abträgt und nichts als ein gigantisches Loch hinterlässt, ist das Zentrum des Buches, zu dem der Text immer wieder zurückkehrt. An einem kalten Januartag steht die Erzählerin am Rand dieses Kraters und blickt – ins NICHTS. Es sollte eine Reise in die Heimat werden, zu den Orten der Kindheit, zu einem Punkt der Erinnerung, an dem sie etwas wiederfinden will, das vielleicht niemals da war. Bereits als Kind hat sie das elfte Gebot “Du sollst vergessen” gelernt, und so, wie der Bagger die Erde durchwühlt, gräbt sie sich jetzt durch Schichten und Schächte ihres Gehirns auf der Suche nach etwas, das sich wie eine Identität anfühlt.
Ihre Eltern sind kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit der kleinen Tochter aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen und haben sich im Rheinland niedergelassen, wo sie es mit einem Ladengeschäft zu bescheidenen Wohlstand bringen, der jedoch nicht lange anhält. Als das Mädchen – in den Augen der katholischen Rheinländer das uneheliches Kind protestantischer Flüchtlinge – endlich Fuß fasst, kehrt der despotische Vater mit Frau und Kind unvermittelt in die DDR zurück. Jahre später, nun im vereinigten Deutschland, fährt die Erzählerin in die einzige Gegend, die für sie einmal so etwas wie Heimat war. Aber dort, im äußersten Westen der Republik, wo sie sich an Wälder, kleine Orte und Dörfer erinnert, ist nichts mehr außer dem gigantischen Krater, den der Braunkohlentagebau gerissen hat und der irgendwann in der Zukunft geflutet werden soll.
Der Vorhang ist vieles zugleich: Familienroman, Kindheitsschicksal, Reflexion über die Schichten der eigenen Erinnerung und das Vergessen-Wollen der Gesellschaft. Ein dichtes Textgewebe aus persönlichen Geschichten, deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, Erdgeschichte, gerichtet an die ins Vergessen sinkende, zunehmend demente Mutter der Erzählerin. Beatrix Langner hat die Fähigkeit, auf knappstem Raum historische Sachverhalte darzustellen und mit ungeheurer Prägnanz Szenen von atmosphärischer Dichte entstehen zu lassen. Zwischen den einzelnen Kapiteln fliegt sie in sprachmächtigen poetischen Bildern mit dem Leser durch Jahrmillionen Erdgeschichte und landet in der gigantischen Zerstörung der Natur durch den Menschen in der Gegenwart. Die Autorin verknüpft diese Themen zu einem atemberaubenden – manchmal etwas atemlosen – Text von großer sprachlicher Schönheit, der gleichermaßen fesselnd wie berührend ist.
Ruth Roebke, Frankfurt