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Autor
Hoppe, Felicitas

Die Nibelungen

Untertitel
Ein deutscher Stummfilm
Beschreibung

Nach all den unzähligen Nacherzählungen, Neuübersetzungen, Opern, Filmen ein neues Buch über die Nibelungen – muss man das wirklich auch noch lesen? Natürlich muss man nicht, aber wer ein so verwirrendes wie faszinierendes, so umwerfend komisches wie fundiert recherchiertes, so fantastisches wie realistisches und, vor allem, brillant geschriebenes Buch sucht, um sich die Weihnachtstage zu versüßen, der sollte dringend zu Felicitas Hoppes zunächst durchaus auch verwirrenden Nibelungen-Version greifen und sich von ihr auf die Reise von der Nordsee über Rhein und Donau ans Schwarze Meer mitnehmen lassen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
S. Fischer Verlag, 2021
Format
Gebunden
Seiten
256 Seiten
ISBN/EAN
978-3-10-032458-0
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Felicitas Hoppe, geb. 1960 in Hameln, lebt als Schriftstellerin in Berlin. 1996 erschien ihr Debüt ›Picknick der Friseure‹, 1999, nach einer Weltreise auf einem Frachtschiff, folgte der Roman ›Pigafetta‹. Für ihr Werk wurde Felicitas Hoppe mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Bremer Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis und dem Erich Kästner Preis für Literatur. Felicitas Hoppe ist die erste Preisträgerin des Großen Preises des Deutschen Literaturfonds. Außerdem Poetikdozenturen und Gastprofessuren in Wiesbaden, Mainz, Augsburg, Göttingen, am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, an der Georgetown University, Washington D.C., in Hamburg, Heidelberg und Köln.

Zum Buch:

Ehrlich gesagt, hat mich die Nibelungensage schon immer verwirrt. Schon allein die Landkarte: Xanten ist holländisch, in Worms leben die Burgunder und in Ungarn die Hunnen – welches Schulkind soll das verstehen? Später dann die Wagner-Opern, die die Geschichte auch nicht unbedingt klarer machen. Und jetzt also, nach all den unzähligen Nacherzählungen, Neuübersetzungen, Opern, Filmen ein neues Buch zum Thema – muss man das wirklich auch noch lesen? Natürlich muss man nicht, aber wer ein so verwirrendes wie faszinierendes, so umwerfend komisches wie fundiert recherchiertes, so fantastisches wie realistisches und, vor allem, brillant geschriebenes Buch sucht, um sich die Weihnachtstage zu versüßen, der sollte dringend zu Felicitas Hoppes zunächst durchaus auch verwirrenden Nibelungen-Version greifen und sich von ihr auf die Reise von der Nordsee über Rhein und Donau ans Schwarze Meer mitnehmen lassen.

Die Geschichte und das Personal dürften hinlänglich bekannt sein; es empfiehlt sich allerdings in diesem Fall, zunächst einen Blick ans Ende des Buches zu werfen, in den „Abspann“ (schließlich haben wir es laut Untertitel mit einem Film zu tun), um die handelnden Personen, die hier nicht unbedingt immer unter ihren gängigen Namen auftreten, identifizieren zu können. Und dann zurück zum Anfang, in dem die Hauptperson der blutigen Tragödie vorgestellt wird, und das ist bei Hoppe niemand anders als der Nibelungenschatz selbst bzw. die „Goldene Dreizehn“ bzw. ein „Söldner“, der abgerissen, zerlumpt und mit nur einem Bein aus dem Krieg zurückkehrt. Und schon sitzen wir in Worms, bei einer Aufführung der Nibelungenfestspiele, gehören zum Publikum, verfolgen in den Pausen die Interviews mit den Schauspielern und lassen uns vom „Zeugen im Beiboot“ erklären, was wirklich los ist. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine bloße Parodie der Wormser Nibelungenfestspiele, trotz der Auftritte des Männerchors Worms-Pfiffligheim und der Blumen streuenden SchülerInnen des Wormser Gymnasiums, vom Tod im Jogginganzug von Woolworth ganz zu schweigen, sondern um eine hochintelligente Auseinandersetzung mit dem im 19. und 20. Jahrhundert angehäuften nationalistischen und romantisierten Nibelungenkitsch, vor allem aber mit den Rätseln und Widersprüchen, die der Stoff selbst vorgibt.

Was hat es mit den Geschlechterverhältnissen am Hof wirklich auf sich? Sind die Paare in all diesem Hochzeitsdurcheinander wirklich die, die wir zu kennen glauben und die bei Wagner ihre Liebe so romantisch besingen, oder geht es um etwas ganz anderes? Schicht für Schicht dekonstruiert Hoppe die historischen Überlagerungen und entwickelt daraus ihre eigene Version, die natürlich nicht „die richtige“, aber stringent und höchst anregend ist.

Nimmt man dazu die wunderbare, rhythmische Sprache, die Phantastik, Skurrilität und den Witz dieser Nibelungenversion, die das Rätsel des Stoffs nicht löst, aber erkennbar macht, dann kann man sich auf eine Lektüre freuen, die so originell, erfrischend und im besten Sinne „nachhaltig“ ist, wie man es sich nur wünschen kann.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.