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Autor
Lebedew, Sergej

Menschen im August

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Beschreibung

„Menschen im August“ nennt der Erzähler die jungen Leute, die sich im August 1991 versammeln, als das Denkmal von Feliks Dzierżiński, dem Gründer der Geheimpolizei Tscheka, gestürzt wird. Das sind Menschen, die sich wie der Erzähler auf die Suche nach der wahren Vergangenheit machen wollten – nun, da die verlogene Vergangenheit gestürzt worden ist. In seinem Roman erzählt Sergej Lebedew die Geschichte eines jungen Mannes, den die Suche nach seinem verschollenen Großvater immer weiter in die Tiefen der sowjetischen Geschichte führt, deren Auswüchse bis in die Gegenwart reichen. Die deutsche Ausgabe von Lebedews Roman erschien vor dem russischen Original, für das sich zunächst kein Verlag finden ließ.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
S. Fischer Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
368 Seiten
ISBN/EAN
978-3-10-042511-9
Preis
22,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Sergej Lebedews Zeitung, für die er in den letzten Jahren schrieb, wurde während des Ukrainekonflikts verboten. Lange Zeit fand sich kein russischer Verlag für ›Menschen im August‹, die deutsche Ausgabe ist die Weltpremiere, nun wird der Roman im Januar 2016 doch in Russland veröffentlicht. Zuletzt erschien sein Roman ›Der Himmel auf ihren Schultern‹. Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren, wo er zurzeit lebt.

Zum Buch:

„Menschen im August“ nennt der Erzähler die jungen Leute, die sich im August 1991 versammeln, als das Denkmal von Feliks Dzierżiński, dem Gründer der Geheimpolizei Tscheka, gestürzt wird. Das sind Menschen, die sich wie der Erzähler auf die Suche nach der wahren Vergangenheit machen wollten – nun, da die verlogene Vergangenheit gestürzt worden ist. In seinem Roman erzählt Sergej Lebedew die Geschichte eines jungen Mannes, den die Suche nach seinem verschollenen Großvater immer weiter in die Tiefen der sowjetischen Geschichte führt, deren Auswüchse bis in die Gegenwart reichen. Die deutsche Ausgabe von Lebedews Roman erschien vor dem russischen Original, für das sich zunächst kein Verlag finden ließ.

Von seiner Großmutter Tanja erhält der namenlose Ich-Erzähler ein Heft mit ihren Erinnerungen. Unklar bleibt jedoch darin, wer sein Großvater, der Vater seines Vaters, war. Nach dem Tod der Großmutter findet der Ich-Erzähler das geheime Tagebuch der Großmutter. Darin ist von einem „M.“ die Rede, die genaueren Umstände ihrer Beziehung werden aber nur angedeutet. War er ein einflussreicher Funktionär, dem es eine Zeit lang möglich war, die Großmutter wegen ihrer bürgerlichen Herkunft zu schützen? Unzufrieden mit den wenig plausiblen Familienlegenden, die sich um seinen Großvater ranken, macht sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach ihm. Das Aufspüren verborgener Wege und Zusammenhänge wird ihm bald zu Berufung und Beruf.

Kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion steigt der Ich-Erzähler in Geschäfte ein, die schnelles Geld versprechen. Er reist umher und sucht nach Wegen für Drogengeschäfte. Auf einer dieser Reisen begegnet er einem Russen, der in der amerikanischen Emigration lebt. Von diesem Mann bekommt er den Auftrag, das Grab seines verschollenen Vaters zu finden. Der Erzähler beginnt also in Archiven zu recherchieren, befragt Menschen und stößt in Gebiete am äußersten Rand der Zivilisation vor. Die Ausdauer und das Geschick, mit dem er verbotene Wahrheiten ans Licht zu ziehen vermag, sprechen sich bald herum, sodass er von solchen Aufträgen leben kann. So wird er zum Sucher von Menschen und ihren Geschichten, die in den Wirren der sowjetischen Geschichte verschollen sind.

Da er meistens Geschichten aufspürt, die auch in der Gegenwart noch unter Verschluss gehalten werden, sind diese Suchen für ihn oft lebensgefährlich. Auf der Suche nach Überresten sowjetischer Straflager findet er zum Beispiel das ehemalige Gulag-Gelände wie eine groteske Fortsetzung des Vergangenen vor: bewohnt und weiterhin als Lager genutzt. Nochmals gefährlicher wird es für ihn nach Putins Aufstieg. Der Erzähler sieht das Land mit einem Mal wieder in die Zeit vor den Errungenschaften des August zurückfallen, als das Denkmal des Geheimdienstgründers fiel. Die „Menschen im August“, in Lebedews Roman repräsentiert von seinem Ich-Erzähler, müssen von da an in einer ihnen nicht eigenen Zeit leben und ständig auf der Hut sein.

Wie bereits in seinem Debutroman „Der Himmel auf ihren Schultern“ beschreibt Lebedew auch in „Menschen im August“ auf überaus sinnliche Weise geschichtliche Prozesshaftigkeit und die Rolle des Menschen darin. Sensibel und wie ein Schamane spürt Lebedews Ich-Erzähler die Geister der Vergangenheit auf, er findet sie in Landschaften und Gegenständen und holt sie dann, als würde er sie selbst wie ein Magnet anziehen, hervor. Nicht selten ist er selbst erschrocken über die Geister, die er da ruft. Die Einordnung seiner Funde, die kohärente Verkettung von Ereignissen zu einem sinnvollen Narrativ, ist erst der nächste Schritt und fällt oft sehr viel schwerer. Diese zweistufige Annäherung an die Vergangenheit – sensibles, intuitives Aufspüren und rationales Verknüpfen von Zusammenhängen – spiegelt sich im Aufbau des Romans. Die Erzählung ist analytisch und episodenhaft angeordnet, ebenso ziellos wie die Suchbewegung des Ich-Erzählers, der zunächst nur einer vagen Eingebung folgend durch die ehemaligen Sowjetrepubliken reist.
Die Geschichten, denen der Erzähler nachspürt, liegen oft verborgen in Landschaften, die nur darauf zu warten scheinen, sich demjenigen, der in ihnen überlebt, als Belohnung preiszugeben. Diese Landschaften sind belebt und nehmen einen entscheidenden Platz unter den Protagonisten des Romans ein. So ist es auch kaum verwunderlich, dass Lebedew sie mit größter Sorgfalt beschreibt. Die Beschreibungen sind lebendig wie Haikus, gleichzeitig aber ausschweifend und so üppig, dass der Leser das Gefühl bekommt, er wandere durch dichtes, moderndes Unterholz.

Die Geschichte, die Lebedew in seinem Roman erzählt, ist tief in der historischen Realität verwurzelt. Von dort aus jedoch dringt Lebedew zu dem Geheimnisvollen hinter den Dingen vor. „Menschen im August“ ist ein großartiges Buch über die ehemalige Sowjetunion und über die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.

Alena Heinritz, Mainz