Zum Buch:
Eine 30 jährige tatarische Bäuerin ist es, die hier die Augen öffnet. Was Suleika sieht, ist hart: einen despotischen Ehemann und eine bösartige Schwiegermutter, ihre Umsiedlung im Zusammenhang mit der sogenannten “Entkulakisierung” und ihr Überlebenskampf in der ostsibirischen Wildnis. Irgendwie aber schafft sie es beharrlich trotzdem die Augen zu öffnen. Mit ihr reist der Leser durch die Sowjetrepubliken und die Jahre, liest von Kälte, Hunger, Grausamkeit und Demütigungen und kann sich nur wundern über die Zähigkeit dieser Frau. Die Autorin, geboren 1977, ist selbst Tatarin und gibt an, von den Erzählungen ihrer Großmutter, die als Kind in einer Siedlung umgesiedelter “Kulaken” in Sibirien aufwuchs, zu der Geschichte inspiriert worden zu sein.
Vier Mal im Verlauf des Romans “öffnet Suleika die Augen” und jedes Mal sieht sie etwas anderes. Zu Anfang ist es der Hof ihres Mannes Murtasa und ihr Leben, das sie sich anders nicht vorstellen kann, wenn es dem Leser auch noch so trostlos erscheint. Seit sie ein junges Mädchen war, lebt Suleika bei ihrem 30 Jahre älteren Ehemann und seiner Mutter. Für Suleika ist es selbstverständlich, dass Murtasa sie wie eine Sklavin behandelt und regelmäßig misshandelt. Die Schwiegermutter wiederum versucht alles, um Suleika das Leben schwer zu machen. Suleika aber ist ihrem Mann ergeben und bemüht sich, es ihm recht zu machen. So arbeitet von morgens früh bis spät in die Nacht. Ihre Gedanken sind dabei immer bei ihren vier Kindern, die alle kurz nach der Geburt gestorben sind.
Dieses Leben wird jäh unterbrochen, als 1930 die sogenannte „Entkulakisierung“ beginnt. Zunächst werden von allen Bauern mit einer “Privatwirtschaft” Abgaben gefordert; dann werden die Bauern zwangsweise umsiedelt. Ignatow ist einer aus der „Roten Horde“, wie Suleika die Sowjets nennt. Er erschießt ihren Ehemann, und so ist sie allein unter den anderen Bauern im Zug der Umsiedler, angeführt von Ignatow. In einem Nachtlager, das die Transportaufseher in einer Moschee aufschlagen, öffnet Suleika zum zweiten Mal die Augen.
Nur wenige überleben die lange Reise kreuz und quer durch das Land – zunächst in einem engen Eisenbahnwaggon, dann in einem Flussschiff über den Jenissej. Hier öffnet Suleika zum dritten Mal die Augen. Sie ist schwanger und darf als eine der wenigen auf dem Deck des Schiffes sein. Nun wird ihr mehr und mehr die Anziehungskraft bewusst, die Ignatow, der Mörder ihres Mannes, auf sie ausübt. Schließlich wird die kleine Gruppe Überlebender mit einer jämmerlichen Ausrüstung im Niemandsland ausgesetzt. Gleich nach ihrer Ankunft wird Suleikas Sohn Jusuf geboren. Für ihn schöpft sie neuen Lebensmut und kämpft fortan um sein Überleben.
Suleika richtet sich ein in dieser arbeitsamen, aber friedlichen Siedlung und öffnet zum vierten Mal die Augen. Ihrem Sohn erzählt Suleika immer wieder das Märchen vom Zaubervogel Semrug. Die Vögel suchen, um ihren Streitigkeiten ein Ende zu bereiten, den Vogel Semrug auf, um ihn zu bitten, ihr Schah zu werden. Sie machen sich auf den Weg und müssen vielen Herausforderungen trotzen. Dabei sterben die meisten. Nur dreißig “Standfesteste” bleiben am Leben und erkennen zuletzt: “Sie selbst waren Semrug. Jeder Einzelne und alle gemeinsam.” Das Märchen spiegelt die Struktur des Romans. Die zähesten der Siedler überleben und kommen darüber hinaus zu einem neuen, besseren Leben in der sozialistischen Siedlung, die von der todbringenden Wildnis durch ihre Ausdauer zum Zuhause geworden ist und die, lautgleich wie der Zaubervogel, Semruk heißt. Hier erfüllt sich ein sowjetischer Traum: Suleika wird aus dem archaischen Leben in ein neues geführt. Dass Jachina diesem optimistischen Narrativ folgt, ist problematisch. Ihr Roman wird dadurch zu einem Märchen über die Emanzipation, über Mutterliebe und die Liebe zwischen einer Tatarin und einem sowjetischen Kommandanten vor dem Hintergrund der russischen Geschichte in den 1930er und 40er Jahren.
Dennoch ist der Roman lesenswert, vor allem auf Grund seiner Bilder. Unter den Siedlern ist auch der Kasaner Arzt Wolf Karlowitsch Leibe, der sich nach der Oktoberrevolution in die Illusion der alten Welt flüchtet, in der es keinen Bürgerkrieg, kein Blutvergießen auf den Straßen gibt und in der er immer noch seinen Morgenkaffee aus feinem Porzellan trinken kann – dass seine morgendliche Tasse seit dem Umsturz leer bleibt, darüber geht er hinweg. Ein “Ei” hat sich über ihn gelegt und wächst von Tag zu Tag – eine Schutzhülle, die ihn von der Außenwelt abschirmt und ihn alle Ereignisse umdeuten lässt. Beinahe ebenso schön ist die Geschichte vom Leningrader Maler Ikonnikow, der für Jusuf die Welt jenseits der Siedlung malt.
Suleika öffnet die Augen ist ein spannender, fesselnder Roman, der dem Leser einen eher unbekannten Ausschnitt der Geschichte vor Augen führt. Neben Darstellungen des Schreckens gibt es zauberhafte Szenen, die denen gleichen, die der Maler dem Jungen von der unbekannten Welt außerhalb der Siedlung malt.
Alena Heinritz, Graz