Zum Buch:
»Der Hunger gegen Ende war entsetzlicher als der Tod. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hat man sich in den Bauch gestopft. […] Die Leichen der Toten, Verhungernde von außerhalb, selbst eigene Verwandte hat man zu Lebensmitteln gemacht.«
Die große chinesische Hungerkatastrophe der Jahre 1958 bis 1962 war nicht etwa die Folge einer gewaltigen Naturkatastrophe oder eines Krieges, sie war vielmehr eine von wenigen Menschen verursachte Katarstrophe. Der Wille des Vorsitzenden Mao, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Idee vom „Großen Sprung nach vorn“ umzusetzen, führte dazu, dass mindestens 36 Millionen Menschen verhungerten. Eine unfassbare Zahl.
Wie konnte es dazu kommen? Die Ernteerträge in diesen Jahren waren gut. Sehr gut sogar. Die Zahlen, die in die Hauptstadt übermittelt wurden, ließen sich sehen. Doch um den angestrebten zweiten Fünfjahresplan auch erfüllen zu können, wurden die Bauern zunehmend dazu angehalten, ihre Erträge noch zu steigern – und sei es auch erst einmal nur auf dem Papier –, was jedoch zur Folge hatte, dass die Forderungen aus Beijing immer höher wurden und die Bauern sich gezwungen sahen, auch noch das allerletzte Reiskorn abzuliefern, sodass sie kaum noch in der Lage waren, ihre Familien zu ernähren. Als nächsten Schritt zwang man sie, in ihren Hütten die Herde abzureißen, damit nicht mehr die Gefahr bestand, sie könnten zu viel essen. Zuwiderhandlungen, wenn zum Beispiel ein verzweifelter Vater einen Beutel minderwertigen Reis oder ein verendetes altes Schwein für seine Familie für sich behielt, wurden vom Kollektiv mit unsagbar grausamen Strafen geahndet.
Auf dem Land wurden Volksküchen errichtet. Aber auch da wurde das Essen zusehends knapper und bestand bald nur noch aus einer halben Schale bitterer Maisblätter pro Kopf. In ihrer Verzweiflung ernährten sich die Menschen von alldem, was nur irgendwie essbar erschien. Schließlich auch von Menschenfleisch. Die ersten starben. Zu Hunderttausenden. Berichte darüber drangen kaum bis gar nicht in die weit entfernten Großstädte, sie wurden entweder stark verfälscht oder als konterrevolutionäre Sabotageakte abgetan. Der Autor Yang Jisheng, der damals Leiter des Propagandabüros einer abgelegenen Provinz war, verlor gleich in den ersten Jahren der Katastrophe seinen Vater, der elendiglich verhungerte. Trotz des großen Verlustes blieb Yang Jishengs Glaube an die Überlegenheit des „großen Kommunismus“ jedoch weiterhin unerschüttert, und erst während der Kulturrevolution änderte er seine Einstellung und setze von nun an alles daran, die schreckliche Wahrheit zu erfahren. Dabei kam ihm zugute, dass er durch seine Position ungehindert im ganzen Land recherchieren und Einsicht in geheime Akten halten konnte. Er führte unzählige Interviews mit Menschen, die die schlimmen Jahre selbst noch miterlebt hatten. Eine Arbeit von zwei Jahrzehnten. 2008 erschien dann sein Buch in Hongkong, das er „Mubei“ nannte. Grabstein. In China ist es verboten.
Selbstverständlich kann man das, was hier auf knapp 800 Seiten geschildert wird, nicht in einem Rutsch durchlesen, man muss immer mal wieder abbrechen, das Gelesene verdauen, denn der Autor erspart dem Leser nichts, und das zu Recht. Es steckt einfach zu viel Arbeit und Aufopferung dahinter, und jeglicher Versuch von Zurückhaltung wäre hier auch völlig fehl am Platz. Die harten Fakten sprechen dann zwar für sich. Dennoch ist es gerade die flüssige, einfühlsame und offene Erzählweise des Autors, die den Leser schon ab dem Vorwort für sich einnimmt und die ihm im Gedächtnis haften bleibt.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln