Zum Buch:
Nachdem am 4. Juni 1989 auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz die monatelangen Proteste der chinesischen Demokratiebewegung ihr blutiges Ende fanden, verfasste der Tagelöhner und bisher völlig unbekannte Poet Liao Yiwu das Gedicht „Massaker“, eine offene Anklage an das herrschende Regime, ein Gedicht wie ein Faustschlag, welches, erst als Handzettel verteilt, bald schon große Verbreitung fand. Nur kurze Zeit später wurde Liao im Verlauf einer groß angelegten Verhaftungswelle festgenommen und ohne Anklage in Untersuchungshaft gesteckt. Was folgte waren die Trennung seiner hochschwangeren Frau und vier Jahre Gefängnis unter den unmenschlichsten Bedingungen.
Mit stumpfer Klinge kahlgeschoren, halbnackt und auf engstem Raum zusammengepfercht mit drei Dutzend Kleinkriminellen und Schwerverbrechern, darunter Mörder, die bereits zum Tode verurteil worden sind, versucht der Poet und Regimekritiker Liao Yiwu dennoch so etwas wie Würde zu bewahren – und scheitert zunächst kläglich. Er ernährt sich von Abfällen und muss tatenlos mit ansehen, wie Zellengenossen auf brutalste Weise misshandelt werden; Morde, Vergewaltigungen und bestialische Folterungen geschehen fast täglich, und ohne, dass das Gefängnispersonal einschreiten würde. Es dauert nicht lange, da wird auch er schwer misshandelt. Mehrmals.
»Von einem Augeblick zum anderen war ich weniger Wert als ein Haufen Hundescheiße.«
Dennoch gelingt es ihm, all das zu überleben. Er lernt, zurückzuschlagen. Mit Worten während der stundenlangen Verhöre, mit Fäusten, Tritten und Bissen in der Gemeinschaftszelle. Er schließt sogar enge Freundschaften, die dennoch jäh durch Vollstreckung des Todesurteils beendet werden. Zwischendurch lernt er Flöte spielen, schreibt Briefe für die Analphabeten, trägt abends Geschichten vor und bekommt dafür Applaus oder eine Extraschale von der ekligtrüben Wassersuppe.
In seinem Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“ beschreibt Liao zunächst die Umstände, die zu seiner Verhaftung führten, bevor er dann in aller Ausführlichkeit seine Erfahrungen in den verschiedenen Gefängnissen schildert. Und spätestens ab hier wird dem Leser nicht das Mindeste geschenkt, denn der Autor lässt nichts aus, vermeidet jegliche Zurückhaltung, und das in erster Linie sich selbst gegenüber, und wenn er dann während seiner Erinnerungen einmal wieder in das Jetzt zurückkehrt, dann ist man als Leser für die kurze Verschnaufpause auch schon wieder dankbar, bevor es dann weitergeht mit dem Grauen. Was mich verblüfft hatte, als ich das Buch las, war die Tatsache, dass Liao Yiwu immer noch die Zeit fand, dem Leser zwischendurch einen Lacher abzuringen, so wie etwas, mit dem man einfach nicht rechnet. Liao ist unbestreitbar der großartige Erzähler, als den er sich bereits in seinem Buch „Fräulein Hallo und der Bauerkaiser – Chinas Gesellschaft von unten“ zu erkennen gegeben hat.
Liao Yiwu lebt heute von Frau und Tochter getrennt. Irgendwo schreibt er, dass er seelisch bis heute nicht aus dem Gefängnis herausgekommen ist. Irgendwo stellt er sich selbst die Frage: »Kann das Glück in einem einzigen Augenblick verlorengehen?«
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln