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Autor
Walter, Barbara F.

Bürgerkriege

Untertitel
Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Wollermann und Bernhard Jendricke
Beschreibung

Barbara F. Walter, amerikanische Politikwissenschaftlerin und Autorin des Weltbestsellers zur Gefährdung der Demokratie in der ganzen Welt, erwarb ihre Sensibilität für die Gefährdungen der Demokratie: von ihrer Mutter. Diese stammte aus dem Schweizer Halbkanton Appenzell Innerrhoden, wo eine männliche Mehrheit die politische Gleichberechtigung der Frauen bis 1991 erfolgreich verhinderte.

Die Autorin zeigt in ihrem Buch überzeugend, wie Staaten, bevor sie in offene Bürgerkriege hinein geraten, ein Stadium durchlaufen, in dem demokratische Rechte und Garantien systematisch aufgeweicht werden, um schließlich im offenen Autoritarismus zu stranden, der zum Bürgerkrieg führt. Dieser Prozess vollzieht sich schleichend, d.h. von den meisten Bürgern unterschätzt und nicht wahrgenommen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hoffmann und Campe, 2023
Format
Gebunden
Seiten
320 Seiten
ISBN/EAN
978-3-455-01510-2
Preis
26,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Barbara F. Walter lehrt Internationale Beziehungen an der University of California und ist Mitglied des Foreign Relations Councils der USA. Sie wurde für ihren Politik-Blog ausgezeichnet und schreibt u.a. für die Washington Post und das Wall Street Journal. Für ihre Arbeit wurde sie u.a. von der National Science Foundation und dem United States Institute of Peace ausgezeichnet.

Zum Buch:

Barbara F. Walter, amerikanische Politikwissenschaftlerin und Autorin des Weltbestsellers zur Gefährdung der Demokratie in der ganzen Welt, erwarb ihre Sensibilität für die Gefährdungen der Demokratie: von ihrer Mutter. Diese stammte aus dem Schweizer Halbkanton Appenzell Innerrhoden, wo eine männliche Mehrheit die politische Gleichberechtigung der Frauen bis 1991 erfolgreich verhinderte.

Die Autorin zeigt in ihrem Buch überzeugend, wie Staaten, bevor sie in offene Bürgerkriege hinein geraten, ein Stadium durchlaufen, in dem demokratische Rechte und Garantien systematisch aufgeweicht werden, um schließlich im offenen Autoritarismus zu stranden, der zum Bürgerkrieg führt. Dieser Prozess vollzieht sich schleichend, d.h. von den meisten Bürgern unterschätzt und nicht wahrgenommen. Sie bemerken den Bürgerkrieg erst, wenn er da ist, was durch viele empirische Untersuchungen, Erfahrungsberichte und Datenbanken eindeutig belegt wird.

Barbara F. Walter ist seit 2017 Mitglied in der Forschungsgruppe „Political Instability Task Force“ (PITF), die die US-Regierung berät, um reagieren zu können, wenn Staaten in den Sog demokratiegefährdender Prozesse geraten, d. h. in das Stadium der Anokratie. Diesen Begriff prägte der Politikwissenschaftler Robert Gurr für Staaten „in der Zwischenzone zwischen Noch-Demokratie und ausgebildeter Autokratie, also für ein Zwitterwesen oder Übergangsregime mit demokratischen Zügen, das jedoch bereits eine Regierung mit autokratischen Befugnissen“ zulässt. Ungarn unter Orbán, die Türkei unter Erdogan und Polen unter Kaczynski oder Netanyahu in Israel sind Beispiele für heutige Anokratien.

Während ihrer Mitarbeit in der PITF war die Autorin „überrascht, dass viele Indikatoren für Bürgerkriege bzw. eine Anokratie in den USA sehr präsent“ sind, und studierte die entsprechenden Analysen und Informationen in den Datenbanken des „Polity Project“ des „Center for Systematic Peace“ von Robert Gurr und Monty Marshall.

Vor allem interessiert sie die Entwicklung und die Rolle des Internets und speziell der Social Media in Ländern und Gesellschaften in unterschiedlichen Stadien der Aushöhlung und Entleerung der Demokratie. Dabei kommt sie zu sehr aufschlussreichen, empirisch sehr gut belegten Befunden. So kann sie zeigen, dass die Gefahr eines Bürgerkriegs in einem Land immer dann „am größten ist, wenn es sich auf die Demokratie zu- oder von ihr wegbewegt und nicht beim Grad an Demokratie“, der im Land zu einem Zeitpunkt herrscht. Hochgefährdet ist die Demokratie in Ländern, die den Prozess der Demokratisierung zu schnell oder zu radikal verfolgen. Sie landen eher in der „Zwischenzone, der Anokratie“ als bei einer substantielleren Form der Demokratie.

Die Versuche, solche Befunde in eine transhistorisch gültige Skala von Faktoren und Kriterien zu übertragen, die einigermaßen zuverlässige Prognosen über Bürgerkriegsgefahren für einen Staat zulassen, unterschätzen jedoch die Rolle und Bedeutung historisch, politisch, sozial von Fall zu Fall doch sehr unterschiedlich gelagerter Verhältnisse, die sich nicht mathematisch begradigen lassen, erheblich.

Als wichtigste Brandbeschleuniger von Konflikten bis hin zum Bürgerkrieg haben sich historisch die Mobilisierung ethnisch-nationaler und religiös-sozialer Gegensätze, Vorurteile und Ressentiments erwiesen. Eine regelrechte „Vorstufe zum Bürgerkrieg“ bilden nach den Forschungsergebnissen der PITF faktionalisierte Gesellschaften, d.h. Gesellschaften, in denen sich ethnische und/oder religiöse Interessengruppen zu homogenen Faktionen verschweißen, die auf der Grundlage von ethnischen und/oder religiösen Zuschreibungen eine radikal identitätsbasierte Politik der Abgrenzung und Ausgrenzung propagieren und durchsetzen, sobald sie dazu in der Lage sind. Die Social Media haben die Bandbreite, Reichweite und Effizienz dieser Faktionen schlagartig vervielfacht und beträchtlich erweitert. Das weltweit eindrücklichste Beispiel und Vorbild für Faktionalismus ist die flächendeckende Agitation bis hin zur Volksverhetzung mit Hilfe der Social Media durch den abgewählten US-Präsident Donald Trump. Das letzte Kapitel des Buches handelt davon, „wie man einen Bürgerkrieg verhindert.“ Es ist bezeichnenderweise eines der längsten und dreht sich fast nur um die Defizite der amerikanischen Demokratie. Denn diese ist für die Autorin in ernster Gefahr, wozu die seit 50 Jahren sinkenden Sozialleistungen und die Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch Rechtsradikale ebenso beigetragen haben wie das in vielfacher Hinsicht defizitäre Wahlsystem und das Fehlen einer zentralisierten Wahlkommission mit für demokratische Wahlen elementaren Aufgaben und Kompetenzen.

Rudolf Walther, Frankfurt a.M.