Zum Buch:
Wer kennt das nicht: da läuft man als Kleinkind mit einem bunten Stirnband, einer einzelnen (meist von einer Taube stammenden) Vogelfeder im Haar und ein paar hingeklecksten Streifen Farbe auf jeder Wange durch die elterliche Wohnung, klatscht mehrmals hintereinander die Hand vor den zum O geöffneten Mund und macht “Wuh! Wuh! Wuh!“ – wie ein echter Indianer eben, der sein Kriegsgeheul anstimmt.
Dabei beruht die Annahme, jeder Indianer, ob nun Apache, Komantsche oder Sioux, würde derart auffallend tölpelhaft durch die Gegend rennen, auf einer reinen Erfindung. Und wer ist dafür verantwortlich? Eben jener langhaarige und langbärtige Ranger, Revolverheld, Büffeljäger und angebliche Indianerfreund William Frederick Cody, genannt Buffalo Bill. Zunächst nur eine Figur aus einem Groschenroman, von deren Existenz er angeblich keine Ahnung hatte, stieg er Ende des vorletzten Jahrhunderts zum weltweit bekanntesten Entertainer des Showgeschäfts auf – ja, vielleicht war er sogar der erste Entertainer überhaupt. Mit seiner nie dagewesenen Wildwest-Show erreichte er zunächst ein mäßig großes Publikum, dass sich für Bullenreiten, Wettschießen und billige Hotdogs interessierte. Aber Buffalo Bill strebte nach Größerem, er wollte mehr. Viel mehr.
Um das Publikum in Massen anzulocken, bedurfte es jedoch einer ganz besonderen Attraktion, etwas, das weit über den Jongleur mit den sechs Äxten oder die Frau mit dem Bart hinausging, er brauchte – Indianer. Echte Indianer. Und dann auch nicht irgendwelche Indianer, sondern den Indianer schlechthin: den legendären Sitting Bull, Sieger der Schlacht am Little Bighorn.
Die Zuschauer waren begeistert und strömten in bisher ungeahnten Scharen herbei. Niemand schien daran Anstoß zu nehmen, dass die Lebenskultur der Indianer dabei regelrecht mit Füßen getreten und ihre historisch verbürgte Geschichte nach Belieben umgemünzt wurde, indem man zum Beispiel das grausame Massaker von Wounded Knee, bei dem unbewaffnete Männer und Frauen sowie eine große Anzahl Kinder regelrecht abgeschlachtet worden waren, kurzerhand als heldenhaften Krieg tapferer Soldaten gegen eine wilde Horde blutrünstiger Rothäute auf die Bühne brachte. Buffalo Bills Wildwest-Show wurde so erfolgreich, dass ihm auf einer geplanten Europatournee der Auftritt im römischen Kolosseum nur deshalb verweigert wurde, weil es schlichtweg nicht groß genug war.
Aber wer war nun dieser William F. Cody? Ein Held? Gewiss nicht, auch wenn er sich (auf seine Weise) für das Schicksal einiger Indianer stark machte. Ein Heuchler und Hochstapler? Schon eher, auch wenn er (hinter vorgehaltener Hand und im engsten Freundeskreis) keinen Hehl daraus machte, dass Geld und Ruhm ihm an erster Stelle am Herzen lagen. Der erste Showmaster überhaupt? Das wohl am ehesten. Eine präzisere und weitaus gehaltvollere Antwort auf all diese und weitere Fragen gibt der französische Autor und Regisseur Éric Vuillard, der zuletzt mit seinem Kongo-Buch Furore machte und dessen besondere, teils tiefernste und dann wieder unvergleichlich frische und mitunter sogar zum Lachen komische Art, Geschichte neu zu erzählen, ein ganz besonderer Genuss ist, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Der Matthes & Seitz Verlag steht seit vielen Jahren schon im Ruf, Fachbücher zu herauszugeben, die besonders unter den Besonderen sind, und dies hier ist nur eines davon.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln