Zum Buch:
Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, lächelte an diesem schönen Nachmittag im Juli 1942. Er hatte sich zuvor die völlig überfüllten Häftlingsunterkünfte zeigen lassen. Die Krankenreviere. Die gräßlich stinkenden, unzureichenden Abort- und Waschanlagen. Die Küchen. Er hatte auf der Rampe gestanden, hatte sich den kompletten Vernichtungsvorgang eines Juden-Transports angesehen, sich im Frauenlager die Durchführung der Prügelstrafe an einem weiblichen Häftling demonstrieren und sich überhaupt jede Einzelheit bis ins kleinste Detail erklären lassen. Im Anschluss daran fuhr er mit seinem Tross hinaus durch das Lagertor zu einem abendlichen Bankett in der nahe gelegenen polnischen Kleinstadt Auschwitz. Er lächelte vielleicht auch deshalb, weil er gerade die Anweisung zum Bau der größten und effektivsten Vernichtungsfabrik der Welt erteilt hatte und mit sich mehr als zufrieden war.
Ein paar Monate zuvor, als die ersten Deportationszüge die Slowakei in Richtung der polnischen Übersiedlungslager verließen, sitzt der siebzehnjährige Rudolf Vrba bei seiner Mutter in der Küche in der kleinen Stadt Trnava und teilt ihr mit, er wolle nach England fliehen, um sich dort der tschechischen Exilarmee anzuschließen.
Die Mutter ist entsetzt. Aber auch praktisch veranlagt. Als alles Ausreden nichts mehr hilft, drückt sie ihm 200 Kronen in die Hand und gibt ihm noch zwei gute Ratschläge mit auf den Weg.
»Pass auf dich auf. Und vergiss nicht, deine Socken zu wechseln.«
Und es waren eben diese Socken, die ihn geradewegs nach Auschwitz bringen sollten.
Es dauert nicht lange, da wird er gefasst. Ungarische Grenzer, die ihn für einen Spion halten, prügeln ihn halb tot, und nur durch Zufall entgeht er dem Erschießungskommando. Er kommt in ein Durchgangslager, kann fliehen, wird erneut verhaftet (einem Gendarmen fallen die zwei Paar Socken auf, die er trotz der Hitze trägt) und kurz darauf mit Dutzenden slowakischer Juden in einen geschlossenen Waggon gepfercht, mit Ziel Majdanek.
Nach all seinen Erfahrungen, den Qualen und dem Leid um ihn herum, ist sein Überlebensinstinkt nach wie vor ungebrochen. Vrba denkt wieder an Flucht. Immer noch. Immerzu. Und als er schließlich die einzige sich ihm bietende Möglichkeit erkennt, meldet er sich freiwillig zu einem Arbeitskommando. Nach Auschwitz.
Die Geschichte, seine eigene Geschichte, die Rudolf Vrba in seinem Buch Ich kann nicht vergeben erzählt, geht weit über das Zeitzeugnis eines Überlebenden hinaus, der als blutjunger Mann im Angesicht der traumatischen Ereignisse alles daransetzt, zu überleben, zu entkommen, zu warnen und, mit der Waffe in der Hand, all dem Grauen ein Ende zu bereiten.
Ich habe viele Bücher über dieses Thema gelesen, sehr viele. Aber Vrbas Schilderungen haben etwas so gänzlich Eigenes an sich, etwas so dermaßen Direktes, Lebendiges, Offenes, dass ich nicht umhin komme, dieses Buch in die vorderste Reihe der einschlägigen Literatur zu stellen.
Hinzu kommt das absolut Ungewöhnliche, Neue, denn gemeinsam mit seinem Freund Alfred Wetzler gelingt Rudolf Vrba im April 1944 tatsächlich die Flucht aus Auschwitz, und er kann sich den Partisanen anschließen. Der Bericht über die Erlebnisse der beiden Freunde hat dann unmittelbar dazu beigetragen, dass Tausende Menschenleben gerettet und, zwanzig Jahre später, in den Frankfurter Auschwitzprozessen, NS-Schergen verurteilt werden konnten. Rudolf Vrbas autobiografisches Zeugnis, das 1963 unter dem unmissverständlichen Titel I cannot forgive erschien, ist ein einzigartiges Dokument unbeugsamer Widerstandskraft und ungeheuren Mutes angesichts des nationalistischen Rassenwahns. Jetzt liegt es in einer neu übersetzten und kommentierten Edition vor.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln