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Hilma af Klint (1862-1944) entstammte einer schwedischen Offiziersfamilie und erhielt die für eine höhere Tochter üblich Schulausbildung. Danach, von 1880 – 1887, studierte sie zuerst an der Kunsthochschule, dann an der Königlichen Akademie der Künste Malerei. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie im eigenen Atelier und erhielt Aufträge für Portraits und Landschaftsbilder.
In jungen Jahren, nach dem Tod einer Schwester, hatte af Klint Stimmen aus einer anderen Sphäre vernommen, und im Alter von 17 Jahren nahm sie zum ersten Mal an einer Séance teil. Von da an wird sie ihr Leben lang in unterschiedlichen spiritistischen Vereinigungen oder Gruppierungen im Freundeskreis den Kontakt zur geistigen Welt suchen.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten auch in Schweden spiritistische Gruppen wie Theosophen, Rosenkreuzer oder Anthroposophen großen Zulauf. Ihre Anhänger teilten die Überzeugung, dass es jenseits der materiellen eine geistige Welt gebe und dieser Geist die Materie durchdringen und vervollkommnen könne. Sie suchten nach Wegen, auf denen sie mit diesen Sphären und den darin lebenden Wesen in Kontakt kommen konnten. Menschen, die diesen Weg beschritten, waren durchaus keine weltabgewandten Spinner. Biologen und Physiker zählten dazu, Techniker, Architekten und Künstler. Man glaubte, mit Hilfe der höheren Welten dem Primat des Materialismus und den starren Regeln der Gegenwart zu entkommen, Standesunterschiede und vor allem die festgeschriebenen Hierarchien der Geschlechter überwinden zu können. Unter dem Einfluss dieser Ideen und Erfahrungen entstanden viele Kunstwerke.
Hilma af Klints Bilder, ihre Themen und Gestaltungsweise entstehen zunehmend durch den Kontakt und die Stimmen aus jenseitigen Sphären und sind mit der herkömmlichen, akademischen Malweise nicht zu erfassen. So entstehen, noch bevor die abstrakte Malerei durch Künstler wie Kandinsky, Mondrian oder Malewitsch bekannt wird, Bilder aus Linien, Symbolen, Wörtern, Zahlen und Farben. Sie malt abstrakte Formen, aber auch die Verschmelzung von Pflanzen, Menschen und Licht. Ihr Leben lang wird sie nach einem Ausdruck für ihre inneren Erfahrungen suchen. Dabei entstehen in rasender Geschwindigkeit zunehmend großformatige, leuchtend bunte Werke, in denen es zumeist um die Durchdringung von Materie und Geist, von Licht und Dunkelheit und von Mann und Frau geht.
af Klints Leben war jedoch weder weltabgewandt, noch waren ihr die Funktionen und Bedürfnisse des Körpers fremd.1900 und 1901 arbeitete sie in Stockholm im Institut für Veterinärmedizin und fertigte dort genaue Zeichnungen für ein Handbuch der Pferdechirurgie. Sie nahm regen Anteil an den Erkenntnissen der Wissenschaften ihrer Zeit und gab einigen ihrer großen Gemäldezyklen Namen wie “Atom” oder “Evolution”.
Erfolg im herkömmlichen Sinne hat sie mit ihrer Kunst nie erreicht; nur wenige Menschen verstanden, worum es ihr ging. Dessen ungeachtet hielt sie an ihrem Weg fest, verfügte aber im Alter von 70 Jahren, ein Großteil ihrer Werke solle erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod öffentlich ausgestellt werden. Als Nachlassverwalter setzte sie ihren Neffen Erik af Klint ein, der ihren Wünschen entsprach. Nach mehreren Anläufen mit kleineren Ausstellungen brachte 2018 eine große Werkschau im New Yorker Guggenheim Museum den Durchbruch: Mehr als 600 000 Menschen kamen, um ihre Bilder zu sehen!
Die Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Voss, die 2008 zum ersten Mal Bilder von Hilma af Klint sah, hat für ihre aufwendigen Recherchen zu Leben und Werk der Malerin Schwedisch gelernt. Sie hat über einhundert Notizbücher der Künstlerin ausgewertet, Archive besucht, mit den Nachkommen gesprochen. Ihre Biographie der Malerin ist mit rund 470 erzählenden Seiten, mehreren farbigen Bildteilen und einem umfangreichen Anmerkungsteil so wissenschaftlich fundiert wie spannend und lebendig erzählt. Der Leser lernt eine ungewöhnliche Künstlerin kennen, deren Leben eng mit den geistigen Strömungen ihrer Zeit verflochten war und die rigoros ihren eigenen Weg ging. Dabei sucht Voss weder nach rationalen Erklärungen noch nach soziologischen oder gar medizinischen Theorien, um übernatürliche Ereignisse einordnen zu können. „In der vorliegenden Biographie wende ich keine solchen Deutungsmuster an“, schreibt sie. „Im Fall von Hilma af Klint scheint es mir übergriffig, sich über die Lebenswirklichkeit der Malerin hinwegzusetzen und ausgerechnet das, was sie als Schlüssel betrachtet, zum Notbehelf herabzustufen.“
Das bezeugt nicht nur Achtung für eine Frau, die unbeirrt von gesellschaftlichen Zuschreibungen ihren Ausdruck fand, sondern ermöglicht den Lesern auch einen unbefangenen Blick auf und ein eigenes Urteil über eine Ausnahmekünstlerin vor dem Hintergrund ihrer Zeit.
Da die Abbildungen im Buch durch das Format zwangsläufig sehr klein sind, kann sich, wer mag, bei youtube in einem Film über die Guggenheim-Ausstellung einen kleinen Eindruck von der Wirkung von af Klints Bildern im Raum verschaffen.
Ruth Roebke, Bochum