Zum Buch:
Dieses Buch über Romane liest sich selbst wie ein Roman: in „Der multiple Roman“ breitet Adam Thirlwell vor dem verwunderten Leser in so kundiger wie unterhaltsamer Weise ein Panorama des Genres über nationale und zeitliche Grenzen hinweg aus. Der spektakuläre Untertitel des Buches verrät einiges über Stil und Genre des „multiplen Romans“: „Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen & mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern & anderen Phantasiewesen“. Es ist der Versuch eines Begeisterten, keine abschließende Untersuchung – aber wie sollte man sich auch anders dem monumentalen Thema des Romans, wie er war und wie er sein wird, nähern?
Thirlwell geht von der Frage aus, wie es möglich ist, dass ein Roman in mehreren Sprachen existieren kann. Die Antwort auf diese Frage sei grundlegend für die zukünftige Entwicklung der Gattung. Dass er mit dieser Frage ein ambitioniertes Ziel verfolgt, gibt der Autor unumwunden, aber selbstbewusst zu. Seinen Lösungsvorschlag nennt er „Multiple“ – Romane, die in Übersetzungen, Überarbeitungen, Variationen, Auslegungen oder anderen Formen der produktiven Rezeption in anderen Sprachen und Zeiten weiterleben. Diese Multiples werden dann zu etwas Einzigartigem mit eigenem Wert, unabhängig von der Quelle.
Eingeteilt ist das Buch in größere thematische Abschnitte mit kurzen Unterkapiteln. Darin werden dem Leser nun Anekdoten aus dem Leben und Werk einiger Schriftsteller geboten, aber auch Überlegungen zu Sprache und zum Phänomen des einzigartigen Stils eines Autors. Intertextuelle Verbindungen von Adaptionen über Kritiken und Übersetzungen werden aufgezeigt. Protagonisten dieses Romans über Romane sind die Schriftsteller – sie erscheinen immer wieder auf der Bildfläche und rücken dem Leser näher. Neben Größen wie Flaubert, Kafka, Joyce und Nabokov werden aber auch unbekanntere Schriftsteller vorgestellt. So erfährt der Leser zum Beispiel von Leben und Werk des zu Unrecht vergessenen ukrainisch-polnischen Autors Sigismund Dominikowitsch Krschischanowski und seinem Leiden unter der sowjetischen Zensur.
Mit seinen Portraitsequenzen lässt Thirlwell Autoren, Übersetzer und Kritiker in Wechselrede treten, sodass ein großes Gespräch entsteht – oder vielmehr ein Stimmengewirr. Das Durcheinander von scheinbar unzusammenhängenden Miniaturen aber gehört zum Konzept, denn auch der zukünftige Roman, der Thirwell vorschwebt, ist ein einziges großartiges Durcheinander, eine „immer verworrenere, unordentliche Collage“.
Thirwells damit zusammenhängende These zur Übersetzung gründet auf seiner Weigerung, das Postulat von der Unübersetzbarkeit literarischer Texte anzuerkennen. Der multiple Roman ist übersetzbar, so Thirwell, denn Stil und Sinngehalt sind mobil und international, so dass sie den Übersetzungsprozess in eine andere Sprache überleben. Stil ist immanent und unabhängig von der Sprache, in der ein Werk geschrieben ist. Er ist dem Autor eigen und kann gleichzeitig von anderen Autoren in anderen Zeiten und Sprachen überarbeitet und wieder aufgenommen werden. Für Thirwell muss die Übersetzung eine Überarbeitung sein, um dem Original in einer anderen Sprache gerecht zu werden. Kategorien wie Treue und Wörtlichkeit seien überholt; die optimale Übersetzung werde zu einem neuen Original und reproduziere „in einer neuen Sprache die Experimente eines Romans in der Originalsprache.“
Die Themen dieser Romane funktionierten wie „Netzwerke“ und könnten unabhängig von Zeit und Ort aufgenommen, zu etwas Neuem bearbeitet und somit vervielfältigt werden. Die Geschichten eines Multiples seien in ihrer Struktur „verästelt“ und ermöglichten so, immer wieder neue Geschichten daran anzuknüpfen. Thirlwell sieht darin einen Beweis für die Endlosigkeit von Literatur. Der multiple Roman sei kein Behältnis für einen linearen Erzählstrang, sondern vielmehr ein „Apparat für die Herstellung bestimmter Situationen.“
Thirlwell spricht den Leser direkt an und lässt ihn an der Entwicklung seiner Ideen teilhaben. Dabei verwirft er auch Einfälle und findet zu neuen Perspektiven. Eben dies in Verbindung mit zahlreichen, farbenfrohen Beispielen macht die Lektüre zu einem Vergnügen. Thirwell spricht eindeutig subjektiv, ist mal witzig und ironisch, mal ernsthaft und begeistert. Das ist keine Betrachtung eines Wissenschaftlers, sondern eines Romanlesers. Vielleicht eines „multiplen“ Lesers, wie er Thirlwell vorschwebt: einem Leser, der international denkt und liest und einen Roman nicht linear, sondern radial verstehen möchte, indem er Verweisen nachgeht, Wiederholungsstrukturen erkennt und die Archit
Besonders beeindruckt jedoch die enorme Zusammenschau von Textstellen; es sind weniger Thirlwells Thesen als die Feier einer großartigen Literaturform, die dem Leser in Erinnerung bleibt. Gleich nach der Lektüre wird er einige der von Thirwell vorgestellten Klassiker aus verstaubten Ecken ziehen und sie sich einmal wieder genauer ansehen.
Alena Heinritz, Mainz