Zum Buch:
Als Emma-Jade und Louis sich auf einem Flughafen zum ersten Mal begegnen, ist zwischen ihnen eine Nähe, die sich beide nicht erklären können. Kim Thúy erzählt die Geschichte dieser beiden jungen Menschen, die in Saigon zur Zeit des Vietnamkrieges geboren werden. Ihre Geschichte ist erschütternd – und wahrhaftig.
Louis kommt als Sohn einer Vietnamesin und eines schwarzen GIs zur Welt. In Saigon kümmern sich ein paar Leute um das unter Tamarinden ausgesetzte Neugeborene. Aus der halb offenen Tür der Bar an der Straßenecke gegenüber dringt immer wieder die Musik von Louis Armstrong, der sein Namenspate wird. Mit sechs beherrscht Louis den Taschendiebstahl so perfekt, dass er davon leben kann. Er hat gelernt, alles und jeden zu beobachten, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und seine Chancen zu nutzen. Deshalb ist er 1975 mit an Bord einer der Hubschrauber der Mission “Frequent Wind”, der amerikanischen Evakuierung von Saigon am Ende des fast 20-jährigen Vietnamkrieges.
Emma-Jade wird bei der Operation “Babylift” 1975 gerettet, auch sie ein Straßenkind. In ihrem ersten Leben in Saigon wird sie em Hóng genannt, ihrer stets rosigen Wangen wegen. Gegeben hat ihr diesen Namen ein farbiger Junge, der sie wie ein großer Bruder auf dem Rücken durch sein Viertel trug. Genau so hätte es gewesen sein können, in diesen Zeiten, unter diesen Bedingungen. Menschen sorgen füreinander, weil es sonst niemand tut, weil die Not groß ist. Sie verlieren sich, sie finden sich wieder.
Das schmale Buch hat es in sich, ist mehr als ein Roman. Thúy lässt die nackten, unwiderruflichen Fakten dieses Krieges nicht aus. Und mehr als das: Sie weist mit ebenso zarter wie tatkräftiger Hand darauf hin, dass im Gegensatz zu den Namen der Gefallenen die der Waisen, Witwen und gebrochenen Herzen nie geschrieben worden sind. Großer Bruder, kleine Schwester wird so zu einer sanften, aber bestimmten Streitschrift wider das Vergessen – und für das unerwartet Schöne: „In jeden Konflikt schleicht sich das Gute ein und findet sogar in den Rissen des Bösen Platz.“
Susanne Rikl, München