Zum Buch:
Auf einem pittoresken, herrschaftlichen Landgut im Süden Englands kommt eine verstreute Familie zusammen, um dem Patriarchen Philipp Brook die letzte Ehre zu geben. Dass sein Tod nicht nur und nicht bei allen tiefe Trauer auslöst, lässt uns die britische Autorin Anna Hope gleich zu Anfang des Romans wissen. Die erleichterte Witwe packt ihren Koffer noch vor der Beerdigung, um vom düsteren Haupthaus in ein freundliches Bedienstetenhaus auf dem Anwesen zu ziehen.
Dort wohnte bislang die älteste Tochter Frannie, die als einziges der Kinder nach einer gescheiterten Ehe mit ihrer kleinen Tochter ins Elternhaus zurückgekehrt. Bewegt von Klimawandel und Artensterben arbeitet sie seit mehreren Jahren als Umweltaktivistin – zuletzt auch gemeinsam mit ihrem milder und etwas weniger egozentrisch gewordenen Vater. Ihre Vision: eine bessere und nachhaltigere Welt schaffen. Mit dem Ziel, Teile des Familienlandsitzes zu renaturieren, haben der alte Brook und Frannie umfangreiche und erfolgreiche Eingriffe in die vorhandenen Parkanlagen geplant und durchführen lassen. In der Zukunft sollte eine Art grüner Wildkorridor bis ans Meer entstehen. Philipps Enkelin wächst mit diesen Umbrüchen und der Wiederkehr besonderer Tier- und Vogelarten auf, nah an den Prozessen der Natur, was sich auch durch ihr angstfreies Interesse am Verwesungsprozess ihres Großvaters ausdrückt, was bei manchen Familienmitgliedern auf Unverständnis stößt.
Frannie, zwar noch in aufrichtiger Trauer, jedoch direkt herausgefordert, das Familienerbe sinnvoll in die Zukunft zu überführen, jongliert schon in den Tagen nach dem Tod ihres Vaters unter Hochdruck mit organisatorischen Fragen und sorgt sich um die Höhe der Erbschaftsteuer. Ihre jüngere Schwester Isa hingegen reist auf den letzten Drücker an und hat, ohne Absprache mit Mutter oder Geschwistern, aus einem Impuls heraus die Tochter einer langjährigen Geliebten des Vaters zur Trauerfeier eingeladen. Ist Clara möglicherweise sogar eine Halbschwester? Was meint sie, als sie auf der Trauerfeier das Wort ergreift und beginnt, die Geschichte um „Albion“ zu erzählen?
Auch Milo, der freundliche, aber labile Bruder reist nicht alleine an, sondern bringt einen alten Freund als möglichen Investor mit, mit gänzlich anderen Plänen für das geerbte Grundstück als seine große Schwester.
Schon alleine dieses facettenreiche und ausgesprochen nahbare Personal, dessen Verflechtungen die Autorin in ihrem dritten Roman meisterhaft erzählt, wäre als vielschichtiger Familienroman in der englischen Upperclass spannend genug. Doch was ihre Romane besonders lesenswert macht, ist die Verknüpfung gesellschaftlich relevanter Themen mit komplexen Familienkonflikten. Wo wir uns treffen versucht nicht, Lösungen für die Klimakatastrophe oder die postkoloniale Aufarbeitung anzubieten, sondern wirft viele Fragen auf, etwa nach der Breite persönlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen, nach einer fast unmöglichen Priorisierung von umweltpolitischen und postkolonialen Forderungen und ganz allgemein nach historischer Verantwortung.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt