Aktuelle Empfehlungen

Drucken

Aktuelle Empfehlungen

Autor
Gary, Romain

Europäische Erziehung

Untertitel
Roman. Übersetzt von Birgit Kirberg
Beschreibung

Die Werte Europas, die moralische Grundlage einer demokratischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg – das sind die politischen Themen dieses Romans. Er erzählt die Geschichte eines Knaben, der in den Wäldern Polens in einer Gruppe von Partisanen überlebt, sich am Kampf gegen die deutschen Besatzer beteiligt, seine erste Liebe findet.

Die Europäische Erziehung erweist sich als zutiefst ambivalent. Sie ist zugleich ein Hineinwachsen in die kulturelle Tradition von Literatur, Musik und geteilten humanitären Werten und eine Durchdringung der Beziehungen und der Denkweisen aller vom Krieg gezeichneten durch männliche Gewalt, Kampf ums Überleben und Verachtung des Gegners. Der Roman ist eine Studie über die untrennbare Verbindung zwischen diesen Seiten der europäischen Geschichte und Existenz.
(ausführliche Besprechng unten)

Verlag
Wagenbach Verlag, 2025
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8031-3378-6
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Romain Gary, geboren 1914 in Vilnius, im heutigen Litauen, gestorben 1980 in Paris, war Regisseur, Übersetzer, Diplomat und einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Im Zweiten Weltkrieg war er Pilot der französischen Luftwaffe, später Generalkonsul in den USA. Als bisher einziger Autor gewann er zweimal den wichtigsten Literaturpreis Prix Goncourt. Sein umfangreiches, vielfach ausgezeichnetes Werk wurde in viele Sprachen übersetzt.

Zum Buch:

Die Werte Europas, die moralische Grundlage einer demokratischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg – das sind die politischen Themen dieses Romans. Er erzählt die Geschichte eines Knaben, der in den Wäldern Polens in einer Gruppe von Partisanen überlebt, sich am Kampf gegen die deutschen Besatzer beteiligt, seine erste Liebe findet. Gary hat den Roman während des Zweiten Weltkrieges geschrieben, zu einer Zeit, als er Pilot der Luftwaffe der freien Französischen Streitkräfte war. In dieser Exilarmee machte er eine militärische Karriere. Seine Biographie ist allerdings eng mit dem osteuropäischen Raum verbunden, in dem der Roman spielt. Beider Eltern waren jüdische Einwohner von Vilnius, aber Gary kam schon mit 12 Jahren zusammen mit seiner Mutter nach Frankreich. Später wechselte er immer wieder die Namen, unter denen er publizierte. Nach 1945 war er als Diplomat in vielen Ländern stationiert.

So ist dieser Roman zwar nicht autofiktional zu verstehen, aber die Grunderfahrung, das Interesse an der Vielgestalt von Identitäten und Zugehörigkeiten leitet die Erzählung. Ein Vater rettet seinen Sohn, den Protagonisten Janek, indem er ihn in einem Erdloch im Wald allein zurücklässt. Janek lebt noch in der Welt der Romane von Karl May, er ist Old Shatterhand und das Leben im Wald ein Spiel. Der Vater kommt täglich und versorgt seinen Sohn mit Nahrung und Zuspruch. Als er nicht mehr an dem Versteck erscheint, macht sich Janek auf die Suche nach anderen Bewohnern des Waldes. Er findet eine Gruppe von Partisanen, die tapfer und schlecht bewaffnet Anschläge gegen die deutschen Besatzer ausführen. Sie sind Polen, Ukrainer, Juden, kommen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Ihre Sprachen, politischen und weltanschaulichen Ansichten erweisen sich als ausgesprochen vielfältig. Ihre Gespräche, ihre Differenzen machen aus der Erfahrung des Krieges und der pausenlosen existentiellen Bedrohung eine „Erziehung“. Es sind fast nur Männer, und fast alle sterben irgendwann durch Krankheiten, Mangelernährung oder im Kampf. Frauen sind nicht Teil der aktiven Gruppe. Sie sind die Geliebten der Partisanen in den Wäldern, oder sie werden von den Deutschen zur Prostitution gezwungen. Eine der Geliebten erweist sich als hervorragende Pianistin. Sie weckt die Begeisterung Janeks für die Musik, seinen Wunsch, Musiker zu werden. Zosia, eine sehr junge Frau, etwa in Janeks Alter, befreit sich aus den Fängen der deutschen Soldaten und kommt zu den Partisanen. Sie wird Janeks Freundin und später seine Ehefrau. Das ist eine freundlich erzählte Liebesgeschichte, wie ein Wärmefeld in den kalten Wäldern.

Die zweite Quelle positiver Energie ist die Literatur. Dobranski, einer der Partisanen, schreibt einen Roman, aus dem er den anderen in ihrem Lager im Wald vorliest. Das Manuskript trägt den Titel „Eine Europäische Erziehung“. Dobranski verarbeitet darin die Erfahrungen des Krieges und entfaltet Portraits nicht zuletzt auch deutscher Soldaten, die als Verlierer beschrieben werden. Es sind grausame Szenen der Schlacht und des Todes.

Gary entwirft ein Tableau von Diversität im Osten Europas. Es ist wie ein Abschied von dieser Welt der Sprachverwirrungen und gegenseitigen Einflussnahme. Die deutsche Besatzung, der brutale Krieg gegen die Zivilbevölkerung und die Zerstörung der kulturellen Lebenszusammenhänge sind uns als Fakt bekannt. Hier ist es der Blick in die Runde der Männer im Lager der Partisanen und ihre Perspektive auf das untergehende Leben in den Städten und Dörfern der „Bloodlands“, der das Europa sichtbar macht, dessen Werte Janek von den Menschen im Wald lernt. Am Schluss bleibt ihm die Musik und die gerettete Freundin. Insgesamt bleibt dabei die Stimmung dunkel, wie ein Nachhall des Sterbens.

Die Europäische Erziehung erweist sich als zutiefst ambivalent. Sie ist zugleich ein Hineinwachsen in die kulturelle Tradition von Literatur, Musik und geteilten humanitären Werten und eine Durchdringung der Beziehungen und der Denkweisen aller vom Krieg gezeichneten durch männliche Gewalt, Kampf ums Überleben und Verachtung des Gegners. Der Roman ist eine Studie über die untrennbare Verbindung zwischen diesen Seiten der europäischen Geschichte und Existenz.

Gottfried Kößler, Frankfurt a. M.