Zum Buch:
Kaleb Erdmanns zweiter Roman Die Ausweichschule ist ein literarisches Wagnis: Er nähert sich einem der dunkelsten Kapitel jüngerer deutscher Geschichte – dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002 – aus einer zutiefst persönlichen, zugleich reflektierten Perspektive. Erdmann war damals selbst Schüler jener Schule, elf Jahre alt, und erlebte, wie ein ehemaliger Mitschüler sechzehn Menschen erschoss. Nach der Tat wurden die Überlebenden für Jahre in ein Ausweichgebäude umquartiert, das titelgebend für den Roman wurde.
Doch wer eine minutiöse Rekonstruktion des Massakers oder eine psychologische Täterstudie erwartet, wird überrascht. Erdmann verweigert sich den gängigen Mustern des Katastrophendiskurses. Sein Text ist kein Thriller, keine True-Crime-Erzählung, sondern eine tastende, selbstbefragende Annäherung an Erinnerung, Trauma und Verarbeitung. Der Autor schreibt einen „Roman über einen Roman“, in dem er den Entstehungsprozess des Buches selbst in den Blick nimmt. Immer wieder reflektiert das Ich des Erzählers, wie sich die Erfahrung literarisch fassen lässt, welche Fallen lauern – Voyeurismus, Vereinfachung, falsche Tröstungen – und ob das Erzählen überhaupt legitim ist.
Im Mittelpunkt stehen weniger die wenigen Minuten der Gewalt als vielmehr die Jahre danach: das Aufwachsen eines Kindes, das den Schrecken überlebt hat, die verschobene Wahrnehmung von Schule, Freundschaften, Normalität. Der Erzähler spürt, wie die verdrängte Erfahrung Jahrzehnte später noch Symptome hervorbringt, wie sie in sein Erwachsenenleben hineinragt. Zugleich setzt sich der Text mit Erinnerungskultur auseinander: Wie wird über solche Taten gesprochen? Wer darf sie deuten? Wie kann man einer sinnlosen Gewalt literarisch begegnen, ohne sie zu verklären oder zu banalisieren?
Erdmanns Stärke liegt im tastenden Erzählen. Zweifel, Brüche, wiederholte Fragen strukturieren die Prosa: „Lässt sich begreifen, was damals geschehen ist? Heißt eine Sache zu bearbeiten, sich von ihr zu befreien – oder sie am Leben zu halten?“ Solche Reflexionen mischen sich mit Rechercheelementen, mit Verweisen auf den offiziellen Gasser-Bericht, auf literarische Stimmen wie Ines Geipel oder Emmanuel Carrère. Damit bewegt sich der Text zwischen autofiktionalem Erzählen, Reportage und essayistischer Erkundung.
Besonders eindrücklich ist der doppelte Blick: aus der Perspektive des Elfjährigen, dessen kindliche Unbefangenheit und gleichzeitige Traumatisierung durchscheint, und aus der Sicht des erwachsenen Schriftstellers, der versucht, Distanz zu wahren. Zwischen banalen Alltagsbeobachtungen und der ständigen Präsenz des Unaussprechlichen entsteht eine beklemmende Fallhöhe – überraschenderweise oft durchzogen von leiser Komik.
Die Ausweichschule ist kein Buch, das Antworten liefert. Gerade darin liegt seine Qualität. Erdmann zeigt, dass die Komplexität des Ereignisses sich nicht in einfache Deutungen pressen lässt. Schuld, Verantwortung, Erinnerung – alles bleibt offen, bleibt mehrdeutig. Die Stärke des Romans ist, Widersprüche auszuhalten und den Leser in diese Unsicherheit hineinzuziehen.
Dass Erdmann sich der Versuchung verweigert, das Grauen nachzuerzählen oder den Täter psychologisch auszuleuchten, macht das Buch zu einer ehrlichen, schmerzhaften und gleichzeitig kunstvollen Auseinandersetzung mit einem kollektiven Trauma. Es geht nicht darum, die Katastrophe zu erklären, sondern die Spuren sichtbar zu machen, die sie in Menschen und Gesellschaft hinterlässt. Damit hat Kaleb Erdmann ein Werk geschaffen, das sich jeder schnellen Kategorisierung entzieht: autobiografisch und fiktiv zugleich, persönlich und gesellschaftlich, analytisch und hochgradig literarisch. Die Ausweichschule ist ein Roman über das Scheitern am Unsagbaren – und gerade darin, in seiner tastenden Offenheit, liegt seine berührende Kraft.
Sara Mundt, Der andere Buchladen, Köln