Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Wagner, David

Leben

Untertitel
Beschreibung

Der Anruf kommt um kurz nach zwei. Ein Mann geht ans Telefon, und eine Stimme sagt: Wir haben eine Leber für Sie. Auf diesen Anruf hat er gewartet, diesen Anruf hat er gefürchtet, er muss sich nun entscheiden. Soll er den Schritt ins Ungewisse wagen, damit er weiter da ist für sein Kind?

Wer “Leben” von David Wagner liest, stürzt in ein Wechselbad, das den Leser mal vor Hoffnungslosigkeit nach Luft schnappen, aber zugleich auch neuen Mut schöpfen lässt.

Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 Belletristik

Verlag
Rowohlt Verlag, 2013
Format
Gebunden
Seiten
288 Seiten
ISBN/EAN
9783498073718
Preis
19,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

David Wagner, 1971 geboren, veröffentlichte im Jahr 2000 seinen Debütroman Meine nachtblaue Hose. Sein Roman Vier Äpfel stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2009. Der Autor wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Walter-Serner-Preis und der Georg-K.-Glaser-Preis. David Wagner lebt in Berlin.

Zum Buch:

Wer in diesem Frühling sowohl im Lese- als auch Kinosessel Platz nehmen will, läuft Gefahr, in ein Wechselbad zu stürzen – ein Wechselbad, aus dem man neuen Mut schöpfen kann, das einen aber zugleich vor lauter Hoffnungslosigkeit nach Luft schnappen lässt. Bereitet wird es von zwei männlichen Figuren, die in unterschiedlichen Medien auftreten. Sie sind beide Mitte Dreißig, gehandicapt – der eine durch eine Autoimmunhepatitis, der andere durch eine Drogenvergangenheit – und erwägen, sich zu ertränken. „Ich könnte – ja, das Wasser ist kalt genug, in kaltem Wasser geht es schnell“, überlegt W., der Ich-Erzähler in David Wagners neuem, wunderbaren Buch Leben. Seine Leber ist zerfressen. Er wartet auf das Organ eines anderen Menschen, das er vielleicht nie erhält, ohne das er aber sicher sterben wird. Es sind die Ungewissheit und die damit einhergehenden Zweifel, die ihn zu dem Gedanken verleiten, ins Wasser zu gehen. Anders, der Protagonist in Joachim Triers großartigem Film Oslo, 31. August, versucht, diesen Gedanken nach dem Drogenentzug in die Tat umzusetzen, weil er nirgendwo, bei nichts und niemandem mehr Halt findet.
Dass das Buch und der Film in Deutschland nahezu zeitgleich veröffentlicht werden, ist natürlich purer Zufall. Der Eindruck aber, dass die Werke sich ergänzen und zusammengehören, lässt sich nicht abschütteln. Denn sie speisen sich aus derselben Quelle, aus der einfach nicht tot zu kriegenden Frage: Wieso und wofür lebt man? Die Antworten, die Film und Buch darauf geben, könnten gegensätzlicher nicht sein. Aber gerade dieser Kontrast verleiht dem, was Leben ausmacht, Schärfe.

Eine der letzten Szenen des Films – nur so viel sei an dieser Stelle gesagt – zeigt Anders bei den Vorbereitungen für den längst beschlossenen Selbstmord. Er trinkt dabei ein Glas Wasser. In diesem Augenblick hat diese eigentlich unscheinbare Handlung, die nur ein körperliches Grundbedürfnis bedient, jeglichen Sinn verloren. Und doch blitzt darin ein letztes Mal der Wille zum Weitermachen auf. Genau solche Momente sind es, die David Wagners Text festhält und W. einen anderen Weg als Anders einschlagen lassen.

Im Krankenhaus, in das W. wegen seiner Leberzirrhose eingeliefert wird, droht zunächst jede Lebenslust unter die Räder des eintönigen Rhythmus zu geraten: „Morgens, mittags, abends, nachts, Tagschwester, Nachtschwester, Visite, Bereitschaftsarzt. Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, sonnabends Eintopf, sonntags keine Visite.“ Dass die Lektüre keine tödliche Langeweile zur Folge hat, verdankt sich der mit Bedacht gewählten Form. Sie präsentiert keine durchgängige Handlung, sondern 277 durchnummerierte Einzelteile, deren Inhalt und Umfang stark variieren. So löst sich die quälende Monotonie in eine Folge von Beobachtungen, Erinnerungen, Träumen und Gesprächen auf. Das nichtig und nebensächlich Erscheinende, das dabei zur Sprache kommt, entpuppt sich als das Entscheidende – wie zum Beispiel Gerüche: „Ich rieche aber nur das Lifosan, die Waschlotion aus dem Hebelspender im Bad, die ich so gern verwende“, oder Berührungen: „sie malen mir auf die Haut, und mir gefällt’s“.
Am Pathos schrammt der Text stets mit schlafwandlerischer Sicherheit vorbei. Unterhaltsame und komische Momente wechseln sich mit zutiefst traurigen ab. Denn Leben ist vor allem eine Parade von Toten: Familienangehörige, Freunde, Mitpatienten und Bekannte von Bekannten des Erzählers, die durch die Hand eines anderen, durch sinnlosen Zufall oder eine unheilbare Krankheit umkommen. Kein Wunder, dass W. eine regelrechte Obsession entwickelt und Todesnachrichten zu sammeln beginnt. Deren Präsentation – so makaber das zunächst klingen mag – bildet den Höhepunkt dieses Buchs. In Verse gebrochen und ihrer Interpunktion entkleidet, entfalten diese Nachrichten eine Eindringlichkeit, die man nicht beschreiben, sondern nur erleben kann.

Malte Kleinjung, Frankfurt am Main