Zum Buch:
Der französische Schriftsteller Paul Léautaud (1872-1956) schrieb Literatur- und Theaterkritiken sowie Essays. Er war von 1905 bis 1941 Lektor beim Verlag Mercure de France. Vor allem aber schrieb er Tagebuch vom 3.11.1893 bis kurz vor seinem Tod 1956 – fast 63 Jahre lang. In der französischen Ausgabe umfasst dieses Oeuvre 19 Bände. Eine Auswahl erschien 1966 auch auf Deutsch. 1944 plante Léautaud die Herausgabe seiner während des Krieges von 1939 bis 1945 entstandenen Notizen. Dazu kam es nicht, aber die von Hanns Grössel edierte und übersetzte Ausgabe im Berenberg Verlag holt das nun nach.
Der Autor passt in keine Schublade und setzte sich zwischen alle Stühle. Er war ein radikaler Kriegsgegner schon im Ersten Weltkrieg, was ihn nicht von der Bewunderung für Ernst Jünger – den Kriegspoeten par excellence –abhielt, den er im Salon der reichen Franco-Amerikanerin Florence Gould am 4.5.1944 in Paris kennen und schätzen lernte. Léautaud lehnte jedoch nicht nur den Krieg ab, sondern auch die Résistance («was diese Leute tun, ist wieder Krieg« S. 84) und noch entschiedener die Demokratie: «Die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht führen zum Unglück eines Landes, besser gesagt: zu seiner Erniedrigung, seiner Verdummung» (S. 120).
Auch nach seiner Selbsteinschätzung passte er in kein Lager und ordnete sich sozusagen im Niemandsland ein: »Ich bin durchaus nicht rechts, eher links, im landläufigen Sinne dieser Begriffe. Ich weiß sehr wohl, was ich bin: nichts, neutral, unabhängig, randständig» (S. 98). Freilich war dieses Niemandsland keineswegs neutral, denn nach seiner Vorstellung herrschten dort Hierarchie, Ordnung und Elite. Immerhin sollte es auch Pressefreiheit und Lehrfreiheit geben und »Schranken» für die »die Großfinanz». Regierende sollte zur »moralischen und finanziellen Verantwortung» (S. 99) gezogen werden.
Zwei Grundzüge durchziehen das »Kriegstagebuch» – ein plakativer Nonkonformismus und grobianische antisozialistische Ressentiments insbesondere gegen die Volksfrontregierung unter Léon Blum, der Jude war. Dessen Sozialpolitik fertigte er pauschal als »Demagogie, Demagogie, Demagogie» (S.59) ab. Im Gegensatz zu vielen Intellektuellen, mit denen er im Kontakt stand, war Léautaud aber zu radikal und zu intelligent, um ein vulgärer Antisemit zu werden wie etwa Pierre Drieu La Rochelle (»Ich mag keine Päderasten. Auch keine Juden» (S.41), ganz zu schweigen von den tonangebenden Politikern des Vichy-Regimes von Pétain und Laval.
Große Nachsicht übte Léautaud dagegen gegenüber den deutschen Besatzern (»die behandeln uns höflich»), denen er allerdings auch zutraute, dass sie »bei der erstbesten Gelegenheit, uns erwürgen werden» (S. 41). Aber nicht nur den militärischen Besatzern, sondern auch Hitler war Léautaud gesonnen. Lange nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion, als Hitlers Niederlage absehbar geworden war, hoffte er noch auf einen Sieg des Nationalsozialismus und damit auf eine »Reorganisierung Europas durch Deutschland.».
Trotz aller Exaltiertheiten verfügte Léautaud durchaus über eine realistische Selbsteinschätzung und räumt Mitte 1942 ein, »dass ich bereits mit zwanzig Jahren etwas xenophob war allen zweifelhaften Ausländern gegenüber, die damals schon in Paris zu sehen waren, leicht antisemitisch (in literarischer Hinsicht) und stark antidemokratisch, zugleich antisozial und antipatriotisch» (S. 93).
In politischer Hinsicht ist das Kriegstagebuch ein schwer erträgliches Sammelsurium von Fehleinschätzungen, Irrtümern und Frivolitäten. Bedeutung gewinnt das Tagebuch dagegen als Zeugnis der beengten und gefährdeten Existenz eines radikalen intellektuellen Sonderlings. 1914 pflegte er in seinem Einsiedlerrefugium »38 Katzen, 22 Hunde, 1 Ziege und 1 Gans» (S.167). Zu Beginn des Krieges 1939 waren es immerhin noch 7 Katzen und zwei Hunde, am 20.11.1945 nur noch 3 Katzen. Dem Tierfreund fehlten schlicht die Mittel, seine Lieblinge zu ernähren. In seinem Testament verfügte er auch, welche Tiere von welchen Freunden übernommen werden sollten, falls sie bei seinem Tod noch lebten. Bereits 1942 begann er, mit Möbeln zu heizen (»man hat immer zu viele Möbel», S. 47) und stellte sarkastisch fest: »Eine neue Annehmlichkeit seit gestern: das Gas im Kochherd gibt so viel Wärme wie eine Kerze. Kartoffeln muss man um 9 Uhr früh aufsetzen, wenn sie mittags gar sein sollen» (S. 80). Am 22.August 1941 notierte er: »Seit drei Tagen bin ich ohne Brot. Keine Marken mehr» (S.65) und ein Jahr später beschreibt er sein Leben als eines mit »Bärenhunger» (S.86). Von der Besetzungsmacht nahm er kein Geld.
Seine Polemik gegen »den neidischen und gehässigen und stumpfsinnigen und gierigen Demos» erfuhr einen Hauch von Berechtigung, als Léautaud bei Kriegsende an seiner Gartenmauer eines Tages eine Inschrift vorfand mit dem Satz: »Hier wohnt ein Kollaborateur» (S.160). Angesichts der Selbstjustiz des französischen Volkes 1945 und der politisch geförderten Rachejustiz war das eine gefährliche Denunziation, die dem Autor hätte das Leben kosten können. Ein Kollaborateur war Léautaud nicht, ein politischer Hasardeur allemal.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main