Zum Buch:
Im Dezember 1961 reist die sechzehnjährige Rita Hellberg von Stade nach Kairo, wo ihre Eltern bereits mit “Pünktchen”, der jüngeren Schwester, leben. Der ältere Bruder Kai bleibt in Deutschland. Ritas Vater, ein Flugzeugingenieur, ist einem verlockenden Angebot von Ägyptens Präsident Nasser gefolgt, der entschlossen ist, in seinem Land eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen und dafür Raketenforscher und Flugzeugingenieure aus Deutschland anwirbt. Friedrich Hellberg ist mit seinem neuen Arbeitsumfeld sehr zufrieden. Man bewohnt ein großes Haus in einem Villenviertel, bleibt in Clubs und exklusiven Hotels unter sich, genießt als “Experte” einen Sonderstatus und könnte ein bequemes Leben haben.
Ritas Mutter kann sich jedoch mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden. War sie schon in Deutschland zwanghaft putzwütig, befürchtet sie nun Schmutz und Keime in jedem Essen und auf jeder Oberfläche. Rita, die in Deutschland gerade von der Schule geflogen ist und die ihr zugedachte Rolle als Helferin der Mutter nicht annehmen will, bekommt einen Job als Sekretärin in der “Fabrik 333”. Sie beginnt, ihr neues Leben voller Luxus und Exotik als selbständige junge Frau in einem fremden Land zu genießen. Aber nach und nach erkennt sie, dass sie in einem brisanten Umfeld lebt. Nicht wenige der “Experten” haben im NS-Deutschland wichtige Rollen in der Rüstungsindustrie bekleidet. Während Ägypten stolz seine Raketen zur Schau stellt (auch schon mal mit Attrappen) und klar ist, dass das Rüstungsprojekt – trotz anderer Verlautbarungen – eine akute Bedrohung für Israel darstellt, verschanzt sich die deutsche Außenpolitik hinter der Position, “das Feld nicht den Russen” überlassen zu wollen und deshalb nicht einzugreifen. Geheimdienste versuchen Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, Bomben werden geworfen, und in Ritas unmittelbarer Umgebung werden Menschen verletzt und sterben. Rita merkt, dass sie die Augen vor der Realität nicht verschließen kann – zumal ihr Bruder Kai, mit dem sie in regem Kontakt steht, sich in Deutschland kritisch mit den politischen Verhältnissen, in denen die Familie lebt, auseinandersetzt.
Fünf Jahre lang hat Merle Kröger an diesem Buch, das sie einen “dokumentarischen Roman” nennt, gearbeitet. Sie hat den Familiennachlass ihrer Freundin Stefanie Schulte Strathaus, deren Großvater einer der “Experten” war, gesichtet und sich mit einigen “Expertenkindern” getroffen. Sie hat in Kairo recherchiert, im BND-Archiv geforscht, Biografien und Autobiografien einschlägiger Personen gelesen. Lebendig und fesselnd zeichnet sie ein atmosphärisch dichtes Bild der frühen 1960er Jahre in Deutschland und Ägypten. Bruchlos wird Realität und Fiktion verschränkt, gleitet Romanhandlung über in BND-Akten, Gerichtsprotokolle, Zeitungsartikel; nahtlos wechseln die Orte und Personen, ohne dass man den Faden verliert oder sich unterbrochen fühlt. Mit Die Experten hat Merle Kröger die fesselnde Geschichte des politischen Erwachens einer jungen Frau in ein reales, genau recherchiertes Umfeld eingebettet und einen Thriller mit wahrem historischen Hintergrund geschrieben, den man atemlos verschlingt.
Ruth Roebke, Bochum