Zum Buch:
Es gibt diese Bücher von denen man in Abständen denkt: „das sollte ich endlich auch mal lesen“, um es dann doch wieder aufzuschieben. Für mich war „Wer die Nachtigall stört“ eines von ihnen. Der Wirbel, der um das nun „entdeckte“ zweite, eigentlich erste Buch von Harper Lee, „Gehe hin, stelle einen Wächter“, entstand, war der Anlass, endlich zu ihrem 1960 erschienen Welterfolg „Wer die Nachtigall stört“zu greifen und zu meiner großen Freude hat es sich wirklich gelohnt.
Die Handlung spielt während der Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Maycomb, einer fiktive Kleinstadt in Alabama, Amerikas tiefem Süden. Die Sphären von Weiß und Schwarz sind streng getrennt und wo man sich begegnet, herrschen – zumindest für die Schwarzen – klare Regeln, die sie tunlichst nicht überschreiten sollten. Es ist die Zeit der Depression, die gerade in ländlichen Gegenden zu großer Armut führte.
Die erwachsene Jean Louise Finch, Scout genannt, erzählt rückblickend die Geschichte ihrer Kindheit. Zu Beginn ist sie sechs Jahre alt und lebt mit ihrem Vater, dem Anwalt Atticus Finch, ihrem vier Jahre älteren Bruder Jem und der schwarzen Haushälterin Calpurnia zusammen. Ihre Mutter starb, als sie noch sehr klein war und der Vater, ein äußerst liberaler Mann, erzieht die Kinder mit Calpurnias Hilfe auf recht unkonventionelle Weise. Er nimmt sie ernst und redet mit ihnen nicht anders als mit den Erwachsenen – auch wenn die Nachbarn sich mokieren, dass die Kinder ihn mit dem Vornamen anreden und ihre Meinungen allzu vorlaut vertreten.
Für Scout, Jem und ihren Freund Dill, der die Sommermonate regelmäßig in Maycomb verbringt, sind es weitgehend unbeschwerte Jahre. Die Zeit vergeht im trägen Gleichmaß und das größte Vergnügen der drei ist die Beobachtung des Nachbarhauses in dem Boo Radley lebt – den man nie außerhalb des Hauses sieht. Die Kinder dichten ihm die wildesten Geschichten an und fürchten sich im gleichen Maße vor ihm wie er sie zu Mutproben herausfordert.
Aber dann ändert sich alles: Atticus Finch übernimmt die Verteidigung eines schwarzen Mannes, der eine junge weiße Frau vergewaltigt haben soll – worauf die Todesstrafe steht. Er muss sich vor einer Jury verantworten, in der ausschließlich weiße Männer sitzen. Plötzlich bricht die trügerische Ruhe im Ort auseinander und die Gegensätze zwischen Schwarz und Weiß, Armut und Wohlstand, Rassismus und Toleranz treten in aller Deutlichkeit zu Tage. Atticus wird als „Niggerfreund“ beschimpft,weil er die Verteidigung nicht abgelehnt hat und bekommt plötzlich viele Feinde. Für Scout und ihren Bruder werden die Folgen des Prozesses zur einschneiden Erfahrung ihrer Jugend.
Dass dieses Buch berührt und von der ersten Seite an fesselt, liegt nicht nur daran, dass vieles an seiner Thematik bis heute – oder gerade wieder – erschreckend aktuell ist, sondern auch an der Frische der Sprache. Die von Nikolaus Stingl behutsame Bearbeitung der alten Übersetzung liest sich flüssig und ist zum Glück frei von jeder verkrampften Anbiederung an heutige Ausdrucksweisen. Wenn etwas an diesem Buch altmodisch ist, dann ist es das Gefühl für Achtung und Anstand und einer tiefen Ehrlichkeit, das mich in einigen Szenen tief berührt hat.
Harper Lee hat wundervolle, lebendige Charaktere geschafften. Auch die kleinsten Nebenfiguren haben ein scharfes Profil und dienen nicht nur dazu, die Handlung voranzutreiben. „Wer die Nachtigall stört“ ist ein berührendes und humorvolles Buch, das wundervoll leicht zu lesen ist und von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfirt