Alle Empfehlungen

Drucken

Alle Empfehlungen

Autor
Witzel, Frank

Die Erfindung der RAF durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969

Untertitel
Beschreibung

Es ist Sommer 1969, und ein dreizehneinhalb jähriger Teenager schreibt in ein DIN-A4 Heft: Rote Armee Fraktion, gegründet 1913. Weil das besser klingt. Ehrenmitglieder sind John Lennon und Steve Marriott. Um dieses titelgebende Ereignis herum komponiert Frank Witzel seinen Roman, der verschiedenste Text- und Erzählformen zu einem dichten und poetischen Portrait westdeutscher Nachkriegszeit vereint.

So überraschend die Entscheidung gewesen sein mag, Frank Witzel dieses Jahr mit dem deutschen Buchpreis auszuzeichnen, so gerechtfertigt war sie. „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist auf allen Ebenen ein Ausnahmeroman. Seine poetische Kraft und sein inhaltlicher Reichtum machen ihn unbedingt lesenswert und herausragend in der deutschen Gegenwartsliteratur. Selten wird mit solch sprachlichem und theoretischem Können ein so gut lesbares Buch geschrieben. Frank Witzel ist es gelungen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Matthes & Seitz Verlag, 2015
Format
Gebunden
Seiten
817 Seiten
ISBN/EAN
9783957570772
Preis
29,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Frank Witzel wurde 1955 in Wiesbaden geboren und lebt in Offenbach. Er ist Autor, Essayist, Illustrator und Musiker.

Zum Buch:

Es ist Sommer 1969, und ein dreizehneinhalb jähriger Teenager schreibt in ein DIN-A4 Heft: Rote Armee Fraktion, gegründet 1913. Weil das besser klingt. Ehrenmitglieder sind John Lennon und Steve Marriott. Um dieses titelgebende Ereignis herum komponiert Frank Witzel seinen Roman, der verschiedenste Text- und Erzählformen zu einem dichten und poetischen Portrait westdeutscher Nachkriegszeit vereint.

Die Frage die sich bei Frank Witzels Roman mehr als alle anderen stellt, ist die Frage nach der Form von Geschichte. Wenn man diesen Text als Sittengemälde der BRD bezeichnet und als historisches Zeugnis westdeutscher Nachkriegszeit, dann ist das durchaus richtig, allein die Vorstellung, die man sich davon macht, ist völlig falsch. Mit viel Feingefühl löst Witzel die Trennung zwischen Erinnerung, Phantasie und Geschichte auf. Das Leben des manisch-depressiven Teenagers wäre als realistische Erzählung genau so wenig zu fassen, wie eine Art allgemeiner Lebenswirklichkeit. Die Erzählungen des Teenagers über den besagten Sommer bilden einen möglichen Hauptstrang des Romans. Auf der Schwelle zum Jugendalter vereint der junge Teenager in ihnen kindliche Hoffnungen und Vorstellungen mit politischen Idolen. So wird Che Guevara zum vertrauensvollen Ansprechpartner, als dem Teenager droht, nicht versetzt zu werden. Der politische Aktivismus des Jugendlichen changiert selbst immer zwischen rasanter Flucht vor der Staatsgewalt und der Gefahr, zu spät nach Hause zum Essen zu kommen.

Was diesen Roman jedoch zu etwas so Besonderem macht, ist nicht nur Witzels gekonntes Spiel mit Erinnerung als Hybrid aus Vorstellungen und Erwartungen, sondern die gelungene Integration völlig verschiedener Erzählformen in einem Roman. Die Schilderungen des Lebens des Fabrikanten, in dem man den Vater des Protagonisten erkennen kann, tragen mythische Züge. Theoretische Abhandlungen über Pop und Zeitgeschichte ergänzen das Geschehen um einen kulturhistorischen Kontext. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit erkennt man in allen Passagen des Romans die Stimme des Protagonisten wieder. Sie sind nicht von außen zum besseren Verständnis hinzugefügt, sondern sind als solche Teil der Erfahrung. Frank Witzel versteht es, die verschiedensten Formen zu einer Einheit zu verbinden. Dem Schicksal des Teenagers werden verschiedene alternative Biographien zu Seite gestellt. Diese sind zugleich Vorstellungen, die der Figur eine psychologische Tiefe verleihen, und variierende Interpretationen seiner Persönlichkeit. Ebenso natürlich wechselt die Stimme des Protagonisten in die Geschichten anderer Personen, denen von Gernika, der Jugendfreundin, von Bernd, seinem früheren Freund und späteren Psychoanalytiker, und am Ende sogar in die des Autors Frank Witzels selbst.

Mit zu den besten Kapiteln des Romans gehören die Verhöre des erwachsenen Protagonisten, in denen er zu seinen angeblichen Taten als Mitglied der RAF befragt wird. Sie arbeiten im höchsten Maße assoziativ und anachronistisch. Jede Historizität wird zugunsten symbolischer und inhaltlicher Parallelen aufgegeben. Sie erinnern mehr an therapeutische Sitzungen, die alle Bewusstseinsformen ansprechen und verbinden. Eine Trennung zwischen Handlung und Symbolik, Identifikation und Tat findet nicht mehr statt. Das Gegenüber des Protagonisten dringt so vollständig in dessen Erfahrungen und Erinnerungen ein, wenn auch immer mit einer grundsätzlich konträren Haltung, dass auch diese den Anschein halluzinierter Selbstgespräche erhalten.

Eine inhaltliche Zusammenfassung des Romans geben zu wollen, wäre so aussichtslos wie irreführend. Gerade der literarischen Form, die den Realismus als Form historischer Wahrnehmung ausschließt, verdankt dieser Roman seine Glaubhaftigkeit. Frank Witzel schreibt auf oberstem sprachlichen Niveau mit einem ungeheuren Feingefühl. Es gelingt ihm, die Poesie von Theorie sichtbar zu machen. Nicht zufällig spielen Alphabete und Etymologien eine große Rolle. Die Sprache ist die treibende Kraft dieses Romans.

So überraschend die Entscheidung gewesen sein mag, Frank Witzel dieses Jahr mit dem deutschen Buchpreis auszuzeichnen, so gerechtfertigt war sie. „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist auf allen Ebenen ein Ausnahmeroman. Seine poetische Kraft und sein inhaltlicher Reichtum machen ihn unbedingt lesenswert und herausragend in der deutschen Gegenwartsliteratur. Selten wird mit solch sprachlichem und theoretischem Können ein so gut lesbares Buch geschrieben. Frank Witzel ist es gelungen.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt