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Der Gott jenes Sommers

Autor
Rothmann, Ralf

Der Gott jenes Sommers

Untertitel
Roman
Beschreibung

Luisa ist im Winter 1945 zwölf Jahre alt. Auf dem Land, wohin sie mit ihrer Mutter und der älteren Schwester aus dem zerbombten Kiel geflohen ist, ist vom Krieg nicht viel Konkretes zu spüren. Gelegentlich sieht man feindliche Flugzeuge, und einmal wird die Dorfschule bombardiert, Flüchtlinge kommen und erzählen von den Gräueln der Russen, aber im großen und ganzen lebt es sich auf dem Gut, das dem Mann ihrer Stiefschwester gehört, recht komfortabel. Für Luisa gibt es seit dem Angriff auf die Schule keinen Unterricht mehr. So ist das sensible Mädchen vor allem damit beschäftigt, die Menschen in ihrer Umwelt zu beobachten und sich einen Reim auf das befremdliche Verhalten der Erwachsenen zu machen, die genau wissen, dass der Krieg verloren ist, aber die Augen vor den Konsequenzen nach Möglichkeit verschließen.

Der Gott jenes Sommers bietet ein verstörendes, faszinierendes und, dank der Sprachkunst des Autors, der scheinbar mühelos die Sprachebenen wechselt, ohne je aus dem Takt zu kommen, intensives Lektüreerlebnis, das noch lange nachhallt. Sehr zu empfehlen.
(ausführliche Besprechug unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2019
Seiten
260
Format
Taschenbuch
ISBN/EAN
978-3-518-46959-0
Preis
12,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Zum Buch:

Luisa ist im Winter 1945 zwölf Jahre alt. Auf dem Land, wohin sie mit ihrer Mutter und der älteren Schwester aus dem zerbombten Kiel geflohen ist, ist vom Krieg nicht viel Konkretes zu spüren. Gelegentlich sieht man feindliche Flugzeuge, und einmal wird die Dorfschule bombardiert, Flüchtlinge kommen und erzählen von den Gräueln der Russen, aber im großen und ganzen lebt es sich auf dem Gut, das dem Mann ihrer Stiefschwester gehört, recht komfortabel. Für Luisa gibt es seit dem Angriff auf die Schule keinen Unterricht mehr; sie treibt sich in der Meierei, bei den Kuh- und Pferdeställen herum und hat genügend Zeit, in all den Büchern zu schmökern, die ihr der Vater aus Kiel oder die Nonnen im nahegelegenen Hospital besorgen. Darüber hinaus ist das sensible Mädchen vor allem damit beschäftigt, die Menschen in ihrer Umwelt zu beobachten und sich einen Reim auf das befremdliche Verhalten der Erwachsenen zu machen, die genau wissen, dass der Krieg verloren ist, aber die Augen vor den Konsequenzen nach Möglichkeit verschließen. Ihre ältere Schwester Billie stürzt sich ins Vergnügen und gibt sich mit allen möglichen Männern ab, von den Landarbeitern bis zu ihrem Schwager Vincent, dem SS-Offizier und Gutsbesitzer, die Mutter pflegt ihre diversen Wehwehchen und fürchtet vor allem die angekündigte Einquartierung geflüchteter Offiziersfrauen in ihre Wohnung, Vincents Frau Gudrun glaubt fest an den Endsieg und setzt alles daran, Großadmiral Dönitz als Taufpaten für das Kind zu bekommen, das sie erwartet. Und über allem schwebt bei den Frauen die Angst vor der Vergewaltigung durch die immer näher kommenden Russen.

Der Gott jenes Sommers ist aber keineswegs, wie man jetzt glauben könnte, ein weiteres Coming-of-Age Buch in schweren Zeiten, auch kein Roman über den Zweiten Weltkrieg und die Nazizeit. Rothmann zieht gleich zu Anfang, im zweiten Kapitel, eine zweite Zeitebene ein: den Bericht des – fiktiven – Chronisten Bredelin Merxheim aus dem dreißigjährigen Krieg, der den Hauptstrang der Erzählung immer wieder unterbricht. Im Stil eines Andreas Gryphius wird darin von den Schreckenstaten marodierender Truppen erzählt, unter der die Bevölkerung entlang der alten Heerstraße nach Dänemark zu leiden hatte, sowie von dem irrwitzigen Plan, eine Kapelle, auf deren Altar einst eine Nonne vergewaltigt wurde, von der einen Seite des Sees auf die andere, die Dorfseite zu bringen und somit Gott zu besänftigen. Hinweise auf den dreißigjährigen Krieg durchziehen das gesamte Buch, etwa wenn Luisa neben Winnetou II und Vom Winde verweht ein Buch von Gryphius zu lesen versucht, oder wenn sie anlässlich des Geburtstagsfestes des Schwagers in einem Nebenraum vor der Darstellung der Untaten der Vergangenheit in einem Wandgemälde steht. Dabei werden die beiden Kriege keineswegs verglichen, vielmehr spiegeln sie sich ineinander. Gemeinsam ist ihnen die besondere Schutzlosigkeit von Frauen im Krieg, d h. die ständige Gefahr der Vergewaltigung durch die jeweiligen Sieger – oder auch durch die sehr bald Besiegten.

So verwirrend diese zwei Zeitebenen zunächst auch sein mögen, so erfüllen sie doch eine Funktion, die das Verstörende an diesem Buch ausmacht. Denn der Blick, der sich aus der Erzählzeit, also der fiktiven Gegenwart, nach hinten richtet, führt unweigerlich auch in die andere Richtung: die Zukunft. Deren Schrecken – Billies Verschwinden, der Selbstmord des Vaters, die Leere in den Augen des Landarbeiters Walter nach seiner Rückkehr von der Front brechen über Luisa und die Leserin herein, ohne näher ausgeführt werden zu müssen. Wenn die mittlerweile Dreizehnjährige auf die Frage, ob sie denn jetzt nicht mal was erleben wolle, antwortet: „Ich habe alles erlebt“, dann dürfte diese Zukunft nicht sehr rosig aussehen.

Der Gott jenes Sommers bietet ein verstörendes, faszinierendes und, dank der Sprachkunst des Autors, der scheinbar mühelos die Sprachebenen wechselt, ohne je aus dem Takt zu kommen, intensives Lektüreerlebnis, das noch lange nachhallt. Sehr zu empfehlen.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.