Zum Buch:
Barfuß, der Kälte wegen die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen tief versunken in den viel zu blassen Gesichtern, stehen die zerlumpten Frauen, Männer und Kinder vor einem Londoner Obdachlosenasyl und warten auf Einlass.
Kriegsversehrte Männer in abgerissener Kleidung, viele von ihnen auf Krücken gestützt, versammeln sich im Morgennebel vor einer Brotausgabe im Paris des späten 19. Jahrhunderts.
Ein verwahrlostes Straßenkind kauert auf dem Boden und schläft. Auf den Knien eine rasch zusammengezimmerte Lade, darin Veilchensträuße zum Verkauf.
Eine junge Kuhhirtin senkt zum Dank den Kopf, während sie im Beisein dreier für den Sonntagsspaziergang herausgeputzter Damen ein Almosen entgegennimmt.
Es sind Malerinnen und Maler wie Käthe Kollwitz, Gustave Coubert, Francisco de Goya oder Fernand Pelez, die in ihren Werken den Mut bewiesen haben, das zu zeigen, was auch im 19. Jahrhundert niemand sehen wollte: Das Elend. Die Armut. Und sie taten dies, obgleich sie wussten, kaum einer würde sich dazu herablassen, einen in Öl oder Gouache verewigten Bettler zu erwerben, der mit ausgestreckter Hand im Rinnstein hockt.
In ihrem posthum veröffentlichten Buch über die Darstellung der Armut im 19. Jahrhundert nimmt sich die US-amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin eines Themas an, welches bis in die heutige Zeit kaum an Brisanz verloren hat. Anhand zahlreicher Zeichnungen, Stiche und Gemälde renommierter Künstlerinnen und Künstler geht sie der Frage nach, was einem interessierten Publikum zu jener Zeit an Hyperrealismus zuzumuten war. Wo lagen die Grenzen des Zeigbaren? Und wer bestimmte sie? Welche Auswirkungen hatte das Gesehene auf die oder den Betrachter? Fragen, auf die der Leser in Linda Nochlins beeindruckenden Texten aufschlussreiche Antworten erhält. Sie zeigt, dass sich das Elend – wie es in der Einleitung heißt – von der Bedürftigkeit früherer Epochen unterscheidet, dass eine neue Armut und ein neuer Reichtum immer Hand in Hand gehen. Eine hochinteressante Lektüre nicht nur für Kunstinteressierte.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln