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Autor
Slawnikowa, Olga

2017

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner und Olga Radetzkaja
Beschreibung

Wie nur können die historischen Ereignisse um die Oktoberrevolution und den russischen Bürgerkrieg mit illegalem Edelsteinhandel, einer legendenhaften „Herrin des Berges“ und einer düsteren Vision für das Russland des 21. Jahrhundert in einem Roman zusammenwachsen? Olga Slawnikowas wunderbarer Roman 2017, der seit dem vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung vorliegt, beantwortet diese Frage sehr überzeugend.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Matthes & Seitz Verlag, 2016
Format
Gebunden
Seiten
460 Seiten
ISBN/EAN
978-3-95757-322-3
Preis
25,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Olga Slawnikowa, geboren 1957 in Swerdlowsk (Jekaterinburg), ist eine russische Journalistin und Schrifstellerin. Seit 1988 publiziert sie Prosatexte. Ihr Roman Eine Libelle in Hundegröße war 1996 für den russischen Booker Preis nominiert, den sie 2006 für ihre Dystopie 2017 erhielt. Seit 2001 ist sie Koordinatorin des russischen Literaturpreises Debüt, der den literarischen Nachwuchs Russlands fördert. Sie veröffentlichte zahlreich Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Zum Buch:

Wie nur können die historischen Ereignisse um die Oktoberrevolution und den russischen Bürgerkrieg mit illegalem Edelsteinhandel, einer legendenhaften „Herrin des Berges“ und einer düsteren Vision für das Russland des 21. Jahrhundert in einem Roman zusammenwachsen? Olga Slawnikowas wunderbarer Roman 2017, der seit dem vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung vorliegt, beantwortet diese Frage sehr überzeugend.

Im Zentrum der Handlung steht der Edelsteinschleifer Krylow. Aufgewachsen in den edelsteinreichen „riphäischen Bergen“ zwischen Europa und Asien, verdient er sein Geld mit dem Schleifen illegal gehandelter Edelsteine. Trotz der illegalen Tätigkeit ist sein Leben ruhig, er liebt seine Arbeit und lebt ganz für sie. Das ruhige Leben erfährt eine entscheidende Wende, als er eine Frau kennenlernt, die sich ihm als „Tanja“ vorstellt. Um ihrer Affäre die Abenteuerlichkeit nicht zu nehmen, verabreden beide, ihre wahren Identitäten und Adressen nicht preiszugeben. Stattdessen ermitteln sie bei jedem Treffen mit Hilfe eines Stadtplans einen zufälligen Treffpunkt in der Stadt. So könnte jedes ihrer Treffen auch das letzte sein, wenn sie sich nur ein einziges Mal verpassten. Krylows Ex-Frau Tamara, eine erfolgreiche Unternehmerin im Milieu windiger Highsociety, lässt ihn und Tanja eifersüchtig von „Spezialisten“ beschatten. Trotz ihres Reichtums ist sie einsam und will Krylow für sich zurückgewinnen.

Tanja aber ist nicht der einzige Grund, warum Krylows Leben mehr und mehr an Brisanz gewinnt. Sein Auftraggeber, argwöhnisch beobachtet von der Konkurrenz, ist einem gewaltigen Rubinvorkommen auf der Spur, und das gefährdet auch Krylows Leben. Ein zweiter wichtiger Schauplatz des Romans wird damit die „ryphäische Landschaft“ (hinter der sich wohl der Ural verbirgt), in denen die sogenannten „Chitniki“ nach Edelsteinen und Gold schürfen. Diese Landschaft ist in ganz entscheidendem Sinne eine mythische. Hier herrscht die „Steinerne Jungfrau“, auch „Herrin des Berges“, die den Chitniki mal als Eidechse, mal als wunderschöne Frau erscheint. Ist sie ihnen gewogen, führt sie sie zu den ertragreichsten Stellen. Doch stellt sie in ihrer Launenhaftigkeit immer auch eine Gefahr dar, die es zu besänftigen gilt. Sie erscheint in ganz unterschiedlichen weiblichen Gestalten, und jeder Beschäftigte in der Edelsteinbranche tut gut daran, sich verführerischen Frauen mit Vorsicht zu nähern.

Der Roman ist im russischen Original bereits 2006 erschienen, also eine Zukunftsvision, deren dystopischer Charakter mehr und mehr an Schärfe gewinnt. Technische Innovationen wie Computer mit Hologramm-Funktion treffen hier auf mediale und politische Entwicklungen, die uns heute leider gar nicht mehr so abwegig vorkommen. Dass der Roman im Jahr 2017 spielt, hat jedoch eine weitere wichtige Bedeutung: im Land wird mit Kostümparaden an die Oktoberrevolution 1917 und den Bürgerkrieg erinnert. Plötzlich aber wird aus Inszenierung tödlicher Ernst: Kostümierte Weißgardisten und Rotarmisten beginnen, sich massenweise anzugreifen und zu töten; den Ordnungskräften gelingt es kaum, Ruhe in die Situation zu bringen. Auf Museen und Theater geht ein Sturm los: die Menschen reißen sich um die historischen und nachgeschneiderten Uniformen, um sich damit an den Kämpfen – entweder auf weißer oder auf roter Seite – zu beteiligen. An Schauplätzen des Bürgerkriegs werden die historischen Schlachten wiederholt, nur der Ausgang ist offen: als Weißgardisten verkleidete Menschen versuchen, Kämpfe zu gewinnen, die die Rotarmisten ein Jahrhundert zuvor gewonnen haben.

Erklärt werden die Ausschreitungen und bürgerkriegsähnlichen Zustände mit dem Charakter der russischen Gegenwart, in der eine „Kultur der Kopie ohne Original“ herrsche und Politiker „Kunstprojekte“ seien. Ein „echtes“ Leben, in dem Freundschaft, Liebe und Solidarität eine Rolle spielt, lebe kaum einer mehr; Kriminalität, Medien und Propaganda beherrschten dieses „theatralisierte“ Leben. Die gesellschaftlichen Probleme zwischen den unfassbar reichen Mächtigen und den Entrechteten im Russland des 21. Jahrhunderts ähnelten denen 100 Jahre zuvor, nur gebe es keine Organisation, die die Menschen zur Entladung der Spannungen leiten könne, so Krylows Theorie. Aus diesem Grund bedienten sie sich der historischen Oktoberrevolution.

Was hier als Lebensgeschichte eines unbedeutenden Edelsteinschleifers beginnt, entwickelt sich zu einer fantastischen Symbiose aus Legende und hochaktueller Dystopie. Großartig.

Alena Heinritz, Graz