Zum Buch:
Nach drei Jahren Gefängnis steht Duca Lamberti mehr oder weniger auf der Straße. Seine Approbation als Arzt hat er verloren, nachdem er einer alten Frau auf deren Wunsch hin Sterbehilfe geleistet und seine Strafe abgesessen hat. Jetzt, drei Tage in Freiheit, wohnt er in Mailand bei seiner Schwester und muss sich entscheiden, ob er als Pharmavertreter arbeiten oder Davide, dem alkoholkranken Sohn des schwerreichen Industriellen Auseri, die Sucht abgewöhnen soll, beides Jobs, die ihm ein alter Freund bei der Polizei besorgt hat. Er entscheidet sich für Davide, der ihm zunächst ein Rätsel ist, bis er herausfindet, dass der nichts anderes im Sinn hat, als seine – eingebildete oder reale? – Mitschuld am Tod einer Prostituierten im Alkohol zu ertränken. Und so gerät Lamberti mitten hinein in einen Sumpf aus Mädchenhandel, organisiertem Verbrechen und Gewalt, aus dem er sich nicht befreien kann, ohne sich die Hände schmutzig zu machen …
Giorgio Scerbanenco, der „Vater der italienischen Kriminalliteratur“, ist in den sechziger Jahren mit vier Romanen um Duca Lamberti bekannt geworden. Das Mädchen aus Mailand, mit dem der Folio-Verlag die Neuauflage der Serie begonnen hat, ist also mittlerweile über fünfzig Jahre alt, und doch hat das Buch eine Frische, die überrascht. Scerbanencos Blick auf die Welt ist ein ähnlicher wie bei Dashiell Hammett und anderen amerikanischen oder französischen Krimiautoren der „Noir“-Schule, die sich kompromisslos der knallharten Realität stellen. Mit knapper und klarer Sprache entwirft er ein Bild Italiens in den sechziger Jahren, das Bild eines Lands auf dem Weg in die Moderne, geprägt von – nicht nur – wirtschaftlicher Unsicherheit. Der Versuch seiner Protagonisten, hier vor allem junge Frauen, sich unter den neuen Verhältnissen einigermaßen anständig durchzuschlagen, mutet erstaunlich aktuell an, und von den Erzählstrategien, dem Aufbau des Plots und dem Spannungsbogen könnten sich manch zeitgenössische Krimiautoren eine gute Scheibe abschneiden. Auch wenn einen das Frauenbild und die Erziehungsmethoden bei der Lektüre gelegentlich heftig schlucken lassen, ruft Das Mädchen aus Mailand noch einmal nachdrücklich in Erinnerung, dass der Kriminalroman in seinen besten Zeiten neben Spannung und Unterhaltung eine gesellschaftspolitische Funktion zukam, die man sich auch heute wieder wünschen würde.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main