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Krieg und Terpentin

Autor
Hertmans, Stefan

Krieg und Terpentin

Untertitel
Roman. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Beschreibung

Ein Enkel begibt sich auf die Spuren seines Großvaters und findet das Leben eines sensiblen, starken Mannes, den das Grauen zweier Weltkriege nicht zerbrechen konnte. So eine mögliche Kurzbeschreibung des vorliegenden Buches Krieg und Terpentin. Der belgische Dichter, Essayist und Romancier Stefan Hertmans nimmt uns mit auf seine eigene persönliche Entdeckungsreise. Im Familiennachlass wurden Tagebücher gefunden, die sein Großvater mit großem zeitlichem Abstand über seine Erfahrungen im ersten Weltkrieg verfasst hatte und die zusammen mit einigen Fotos und Gemälden die Grundlage von Hertmans Geschichte bilden.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Diogenes Verlag, 2018
Seiten
416
Format
Taschenbuch
ISBN/EAN
978-3-257-24431-1
Preis
14,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Stefan Hertmans, geboren 1951 in Gent (Belgien), Dichter, Dramatiker, Romancier, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. ›Krieg und Terpentin‹ wurde 2014 mit dem AKO Literatuurprijs, De Gouden Uil und dem Preis der flämischen Gemeinschaft für Prosa ausgezeichnet. Hertmans lebt in Brüssel und im südfranzösischen Monieux.

Zum Buch:

Ein Enkel begibt sich auf die Spuren seines Großvaters und findet das Leben eines sensiblen, starken Mannes, den das Grauen zweier Weltkriege nicht zerbrechen konnte. So eine mögliche Kurzbeschreibung des vorliegenden Buches Krieg und Terpentin. Der belgische Dichter, Essayist und Romancier Stefan Hertmans nimmt uns mit auf seine eigene persönliche Entdeckungsreise. Im Familiennachlass wurden Tagebücher gefunden, die sein Großvater mit großem zeitlichem Abstand über seine Erfahrungen im ersten Weltkrieg verfasst hatte und die zusammen mit einigen Fotos und Gemälden die Grundlage von Hertmans Geschichte bilden.

Der erste und ausführlichste von drei Teilen des Romans umfasst die Beschreibung der entbehrungsreichen Kindheit und Jugend des Großvaters als Sohn einer bitterarmen Familie. Nah und nachvollziehbar werden die kargen Lebensumstände Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben, unter denen dieser Junge groß wird, eine Lehre in einer großen Eisengießerei absolviert, die ihn fast das Leben kostet, und daraufhin die Liebe zur Malerei entdeckt. Wie viele Stunden hatte er als kleiner Junge frierend, aber fasziniert am Fuße einer Leiter verbracht, auf der sein Vater mit unendlicher Muße und großem Talent Kirchenwände bemalte. Der Vater leidet jedoch schon früh an Asthma und kann durch seine künstlerische Tätigkeit Frau und Kinder kaum ernähren. So bleibt für den Heranwachsenden nur eine Ausbildung auf der Militärschule, in diesen Zeiten eine der wenigen Möglichkeiten, für ein paar Jahre mit Essen und Kleidung versorgt zu sein. Über die tatsächliche Möglichkeit, in den Krieg zu ziehen, hat der Großvater gar nicht nachgedacht und wird von dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seiner eigenen Einberufung zusammen mit vielen anderen Männern seines Dorfes überrascht. Man sieht sie förmlich vor sich, diese kraftstrotzenden, Witze reißenden, naiven Kerle, die keinerlei Vorstellung davon hatten , was sie in den kommenden Monaten erwartet.

Die in der Folge im zweiten Teil des Buches von Hertmans verwendeten und historisch belegbaren Aufzeichnungen des Großvaters sind so grausam, authentisch und ungeschönt, dass man es als Leser manchmal fast nicht aushalten kann. Wozu Menschen im Krieg in der Lage sind, müssen die jungen Soldaten auch erst „lernen“, viele zerbrechen daran, körperlich oder seelisch so verwundet, dass oft genug nur noch der Tod auf dem Schlachtfeld Erlösung bringen kann. Als besonders niederschmetternde Erfahrung beschreibt der Großvater die Begegnung mit dem deutschen Gegner, der seinen Glauben an einen auch im Krieg gültigen „Ehrenkodex“ erbarmungslos zunichte machte: „Diese Art der psychologischen Kriegsführung war uns unbekannt. Unsere militärische Ausbildung hatte sich um Ehre, Moral und Kriegskunst gedreht, uns war beigebracht worden, elegant das Florett zu führen und Menschen zu retten, die Soldatenehre hatte uns genauso wichtig zu sein wie die Vaterlandsliebe. Was uns hier aber begegnete, war ein ganz anderes Kaliber und widersprach allem, was wir dachten und fühlten.“

Die Tatsache, dass die traumatisierten Überlebenden dieses Krieges nur kurze Zeit später in einen weiteren Krieg ziehen mussten, lässt uns frösteln. In den Aufzeichnungen von Hertmans Großvater gibt es keine glorifizierten Helden, keine romantisierten Kriegserinnerungen. Wir begegnen Menschen am tiefsten Punkt des Seins, in den Schützengräben dahinvegetierend, hin und her gerissen zwischen dem Bewahren einer letzten Würde und dem Ergeben in Dumpfheit, Hunger und Schmerz. Für den Großvater bilden ein Stück Kohle, ein Blatt Papier, das skizzierte Porträt eines Kameraden die Möglichkeit, ein Stück seiner Würde zu bewahren.

Hertmans lässt keinen Zweifel daran, dass sein Versuch, eine Biografie – nämlich die seines Großvaters – nachzuzeichnen, unvollständig bleiben muss und die Suche nach einer verlorenen Zeit eigentlich vergeblich ist. Und doch hat er mit diesem Roman einer zutiefst erschütterten Generation eine Stimme gegeben und das Grauen des Kriegs, wo und wann auch immer dieser geführt wird, greifbar gemacht.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt